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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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denkt nicht darüber nach, wie der Mensch und seine Gesellschaft ist , sie befaßt sich damit, immer neue Vorschläge zu erfinden, wie der Mensch und seine Gesellschaft sein soll. Da man darüber natürlich hunderterlei verschiedener Meinung sein kann, ist die Philosophie nie zu einem einheitlichen Ergebnis gekommen. Aber die vorherrschende Meinung zumindest derzeit scheint zu sein, daß der Mensch im Kern gut und weise ist, und wenn er verdorben ist oder wird, dann sind immer die anderen schuld. Ich habe ja nun mit vielen gebildeten Großnasen gesprochen und habe ihre Meinung erforscht: mit Herrn Shi-shmi (der Geprüfter Gelehrter ist), mit Meister Yü-len, mit Herrn Richter Me-lon, mit Frau Pao-leng. Alle sind im Grunde der Meinung, daß man vom Menschen nur gut zu denken brauche, dann werde er gut.
    Das kommt mir so vor wie die Ansicht, man brauche einem Einbeinigen nur die unschönen Krücken wegzunehmen, dann könne er wieder grade gehen. –
    Nicht mit einem leisen Trommelwirbel wie bei uns, sondern mit einem schrillen Klingeln wird hier das Ende des Unterrichts angekündigt. Ich stand auf und bedankte mich mit einer Drei-Viertel-Verbeugung beim Herrn Direktor. Draußen erwartete mich Frau Pao-leng, und wir fuhren in ihrem A-tao-Wagen nach Hause. Ich genieße das Fahren mit dem A-tao-Wagen jetzt, wie ich überhaupt gelernt habe, die Annehmlichkeiten der Großnasenwelt anzunehmen. Aber ich verkenne nicht den Preis, den sie dafür zahlen muß. Darum werde ich den Annehmlichkeiten nicht nachtrauern. Wenn ich an die Unordnung und an die Verwirrung der Begriffe denke, die der Preis dieser Annehmlichkeiten ist, wird es mir nicht schwerfallen, mich wieder in unserer Welt zurechtzufinden, wo man nicht nur auf einen Knopf zu drücken braucht, um Licht zu machen.
    Aber das Mo-te Shang-dong werde ich vermissen.
    Ich grüße Dich innig, Dein bald wieder bei Dir weilender
    Kao-tai

Vierunddreißigster Brief
    (Dienstag, 4. Februar)
    Mein teurer Dji-gu.
    Du hast recht, wenn Du bemängelst, daß ich – der ich immerhin Präfekt der kaiserlichen Dichtergilde »Neunundzwanzig moosbewachsene Felswände« bin – noch kein Wort über den Stand der Literatur in der Welt der Großnasen verloren habe. Das hat nicht seinen Grund darin, daß mich die Literatur plötzlich nicht mehr interessiert, sondern vielmehr darin, daß die Großnasen heute eigentlich keine Literatur mehr haben. Sie haben nur noch Bücher.
    Seit ich die Sprache der Großnasen soweit beherrsche und seit ich die Schrift lesen kann, habe ich mich bemüht, auch in die Literatur einzudringen. Ich habe verschiedene Werke gelesen, manche haben mir gefallen, manche haben mir mißfallen, viele habe ich nicht verstanden. Es gibt keine einheitliche Literatur der Großnasen, so wie es – was ich bei der Gelegenheit erfahren habe – keine einheitliche Sprache der Großnasen gibt. Wenn ich also sage: ich spreche und verstehe – einigermaßen – die Sprache der Großnasen, so ist das strenggenommen falsch. Ich spreche die Sprache der Leute von Ba Yan, die hier und in einigen Gegenden des Gebirges und bis nach Norden ans Meer hin gesprochen wird. Daneben gibt es zahlreiche andere Sprachen. Frau Pao-leng spricht außer der Sprache der Leute von Ba Yan auch eine Sprache von Leuten, die westlich auf einer großen Insel wohnen. Sie unterrichtet die Schüler auch in der Handhabung dieser Sprache. Außerdem hat Frau Pao-leng die Literatur dieser beiden Sprachen studiert. Den diesbezüglichen Gesprächen mit ihr verdanke ich es, daß ich Dir den folgenden kleinen Abriß der Literatur der By yan-Sprache (die auch »Sprache der Tugend« 24
› Hinweis
genannt wird) geben kann.
    Die ältesten Zeugnisse dieser Literatur reichen nicht viel weiter als bis auf die Zeit zurück, in der wir leben – in der im Augenblick Du lebst, ich bald wieder leben werde. Es sind aus dieser Zeit mehrere ziemlich blutrünstige Balladen großen Ausmaßes überliefert, die aber kein Mensch mehr lesen kann, weil sich – anders als bei uns – die Sprache sehr stark geändert hat. Frau Pao-leng hat einmal gesagt, wenn eine Großnase aus der Zeit jener blutrünstigen Lieder herauftauchen würde, könnte sie sich anfangs auch nicht viel besser verständigen als ich.
    Einige Jahrhunderte später wurde es üblich und galt als fein und gebildet, in einer bereits damals ausgestorbenen Sprache – genannt La-teng – zu dichten. Das versteht heute natürlich auch kein Mensch mehr. Wiederum etwas später, um die
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