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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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Zeit eines großen, dreißig Jahre andauernden Krieges, hat man sich wieder auf die »Sprache der Tugend« besonnen, aber die Dichtwerke aus dieser Zeit, sagt Frau Pao-leng, zeichnen sich durch überquellende Schwülstigkeit aus, so daß auch diese Werke ungenießbar sind. Erst vor etwas mehr als zweihundert Jahren glückte es einem Meister, der den für uns anheimelnden Namen Le-sing trug (mit dem Beinamen: »Gott ist ihm hold«) und den Frau Pao-leng sonderlich schätzt, auch heute und hier noch lesbare Werke zu schaffen. In gewisser Weise die Fortsetzer dieses Le-sing, dem Gott hold war, waren die zwei Dichter, die die Großnasen (die hiesigen Großnasen, muß ich einschränken) als Zweigestirn und Gipfel ihrer Literatur preisen. Der eine davon hieß »Kommt von oben«, der andere hieß »Geht nach oben« 25
› Hinweis
. Von beiden habe ich Gedichte gelesen, von denen ich keinen schlechten Eindruck habe. Danach, sagt Frau Pao-leng, sei die Literatur sehr in die Breite gegangen. Viele Dichter hätten sich damit beschäftigt, namentlich den »Kommt von oben« zu kommentieren und auszulegen, aber plötzlich sei eine neue Richtung der Literatur aufgetaucht, die alles bisherige als alten Plunder bezeichnet und ihre Aufgabe darin gesehen habe: die Welt darzustellen, wie sie wirklich ist. Das konnte nicht gutgehen (das sagte nicht Frau Pao-leng, das sage ich), denn die Großnasen sind, wie ich Dir im letzten Brief geschrieben habe, überhaupt außerstande, die Welt zu sehen, wie sie wirklich ist. Einer der hervorstechendsten dieser Wirklichkeitsdichter war – das sagt wieder Frau Pao-leng – »der Große Kapitän«, der so aussah, daß er häufig mit dem »Kommt von oben« verwechselt wurde – was aber dem »Großen Kapitän« eher angenehm war.
    Die Literatur der letzten hundert Jahre endlich ist völlig unübersichtlich. Man kann sagen, sagt Frau Pao-leng, daß jeder grad so dahinschreibt, wie er will. Je weniger sich einer an Regeln hält, desto mehr gilt er. Da es keine Regeln zu befolgen gilt, kann praktisch jeder dichten – das ist ja klar. Da Dichten und Schreiben eine angenehmere und weniger anstrengende, auch sauberere Arbeit als viele andere Tätigkeit ist, und zudem oft angesehener, dichtet fast jeder zweite. Das ist mittelbar auch die Folge der Tatsache, daß so gut wie jeder als Kind gezwungen wird, lesen und schreiben zu lernen. Hier haben wir wieder so einen Punkt, wo man sagen muß: eine an sich gute Sache, nämlich die allgemeine Bildung und Erziehung, hat ihre entschiedenen Schattenseiten. Da jeder schreibt, ist der Ruhm des einzelnen kurz. Das ist ja klar.
    Frau Pao-leng hat mir nach und nach einige Bücher gegeben, die ich lesen sollte. Sie sagte, das seien ihre Lieblingsbücher, und sie maße sich nicht an zu behaupten, daß mein Eindruck von der großnäsischen Literatur damit allseitig sein werde; im Gegenteil: er sei wohl eher einseitig. Aber selbst wenn ich statt einem Jahr hundert Jahre hierbliebe, könnte ich unmöglich alles lesen.
    Ich las ein sehr dickes Buch von einem Autor, der vor über hundert Jahren gelebt hat. Das Buch hieß: ›Der späte Sommer‹ und war sehr fromm und idyllisch. Wie der Autor hieß, habe ich vergessen. Seine Vorliebe galt den Rosen – zumindest in diesem Werk. Im großen und ganzen gesehen aber war das Buch sauber und beruhigend. Danach las ich ein Buch eines moderneren Autors. Es hieß: ›Der Prozeß‹ und war düster und grausam. Es schildert, wie ein Mann von ungenannten Mächten verfolgt wird und sich – wie im Traum sich mühsam bewegend – nicht wehren kann. Das dritte Buch habe ich so gut wie nicht verstanden: es hieß ›Irregehen und Verwirrungen‹ und handelte von Dingen, die mir überhaupt nicht einleuchteten. Ich sagte das auch Frau Pao-leng, worüber sie enttäuscht war, denn sie hält gerade große Stücke auf diesen Autor als einen, der die »Sprache der Tugend« hervorragend elegant und gleichzeitig bestechend schlicht beherrscht. Es mag daran liegen, sagte Frau Pao-leng, daß ich die Hintergründe und die Zeit, in der dieses Buch spielt, nicht kenne. Gut, mag sein. Dann hätte sie es mir nicht geben sollen.
    Danach las ich ein Buch, ein sehr dickes Buch von einem Autor, der merkwürdigerweise nur »der Mann« genannt wird. Es war die ausführlich und zum Teil humorvoll geschilderte Geschichte einer Familie, die zunehmend in Schwierigkeiten gerät. Es gefiel mir so gut, daß ich ein weiteres Buch dieses »Mannes« lesen wollte, aber das
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