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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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lassen, die sich im Übrigen auch mit der Meinung von Herrn Shi-shmi in diesem Punkte deckt: nicht die Leute, meint Herr Me-lon, empfänden sich als in der Mitte geschlitzt, sondern die Politiker, und die redeten den Leuten ein, auch sie empfänden so. In Wirklichkeit ist der Masse der Großnasen diese Teilung völlig gleichgültig – jedenfalls hier im West-Teil von Te-chih. Im Ost-Teil nicht, sagt Herr Richter Me-lon, aber da auch nur deswegen, weil es den Leuten dort infolge noch größerer als üblicher Unfähigkeit und Korruption der Minister weit schlechter geht als hier. Ansonsten wäre es den Leuten dort in Wirklichkeit auch gleichgültig.
    Nichtsdestoweniger ist das Geheul über die Trennung hier eine Art Staatsdoktrin geworden, in die jeder einstimmen muß, wenn er im öffentlichen Leben etwas erreichen will. Das gilt – und damit komme ich zum Ausgangspunkt zurück – namentlich auch für die Literatur. Nur Gesänge, die diese Trennung beweinen und die neuerliche Vereinigung des Staates dereinst herbeiwünschen, werden ernst genommen. Am günstigsten, sagt Frau Pao-leng, treffen es jene Autoren, die vom Land der Ost-Lehre hierhergekommen sind und nun hier leben. Sie gelten als die wahren Frommen und genießen das höchste Ansehen. Ich habe einige Bücher von diesen Leuten gelesen. Du wirst verstehen, daß ich mir nicht die Mühe gemacht habe, mir ihre Namen zu merken.
    Mein treuer Dji-gu, nur noch wenige Tage trennen uns von unserem Wiedersehen. Ich danke Dir schon jetzt für alles, was Du in meinen Angelegenheiten während meiner Abwesenheit besorgt hast. Ich grüße Dich und bin, wie in allen Briefen
    Dein Kao-tai

Fünfunddreißigster Brief
    (Sonntag, 16. Februar)
    Mein geliebter, alter Dji-gu.
    Ich bin zweifach erleichtert, wenngleich der kommende Abschied von Frau Pao-leng, räume ich ein, meine restlichen Tage hier ein wenig mit Trauer überschattet. Ich bin zweifach erleichtert: Herr Shi-shmi ist endlich gereist und vor allem wiedergekommen. Als ich den vorhergehenden Brief zum Kontaktpunkt brachte – der ja ganz in der Nähe von Herrn Shi-shmis Wohnung liegt, an der kleinen Brücke über den Kanal, den ich anfangs für den »Kanal der blauen Glocken« hielt, habe ich Herrn Shi-shmi besucht und nochmals mit allen möglichen Argumenten versucht, ihm seinen Plan auszureden. Aber er beharrte auf seinem Vorsatz. So blieb mir nichts anderes übrig, als zu meinem alten Versprechen zu stehen. Ich brachte ihm am Tag danach den Zeit-Kompaß, unterwies ihn in der Handhabung und sah ihn am Kontaktpunkt in die Zukunft verschwinden. Er versprach mir vorher noch, alle Sorgfalt zu beachten und nicht zu weit zu reisen.
    Und mit welchen Gefühlen ich mich auf den Weg zurück ins Hong-tel machte, kannst Du Dir denken. Abends besuchte ich mit Frau Pao-leng (die sich dabei schon stark langweilte) die Tanz- und Musikdarbietung ›Das Land, in dem immer gelächelt wird‹, aber ich konnte diesmal der Darbietung nur wenig Komik abgewinnen. Danach redeten wir lange. Frau Pao-leng sagte, daß sie so egoistisch sei, zu hoffen, Herr Shi-shmi komme nicht mehr zurück, so daß auch ich für immer hierbleiben müsse. Sie weinte. Ich sagte nichts, stand auf und schaute die Wand an. Alles, was ich dazu zu sagen habe, habe ich ihr schon gesagt. Ich will zurück in meine Zeit-Heimat fahren, weil ich es mir einmal so vorgenommen habe. Anders würde es meine Ordnung zerstören, die der Boden ist, auf dem meine Füße stehen.
    Nach einigen Tagen läutete das Glöckchen meines Rüben- Apparates Te-lei-fong in meinem Zimmer im Hong-tel, und ich hörte erleichtert die Stimme von Herrn Shi-shmi. Sie klang belegt. Er sagte nur, er danke mir, und er bringe mir in den nächsten Stunden den Zeit-Kompaß in der Reisetasche zurück.
    Ich erwartete ihn in der Halle des Hong-tel. Er kam herein, ergriff meine Hand und beutelte sie nach Art der Großnasen, stellte die Reisetasche neben mich hin und trank einen Becher Mo-te Shang-dong. Dann entzündeten wir je ein großes braunes Brandopfer Da-wing-do, und ich fragte nach angemessenem Schweigen, wie es denn gewesen sei?
    Herr Shi-shmi erzählte, daß er zunächst nur ein ganz kleines Stück, zwanzig Jahre etwa, in die Zukunft gereist sei, dann noch einmal das Doppelte ungefähr weiter – insgesamt nicht mehr als hundert Jahre. Dann schwieg er wieder. Nun, sagte ich, edler Freund und Geprüfter Gelehrter Shi-shmi, wie ist es denn gewesen? Aber er schüttelte nur den Kopf, ächzte und wischte sich
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