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Tom Thorne 04 - Blutzeichen

Titel: Tom Thorne 04 - Blutzeichen
Autoren: Mark Billingham
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Später glaubte Carol Chamberlain tatsächlich, sie habe von Jessica Clarke geträumt, als sie diesen ersten Anruf erhielt. Dass es das Klingeln des Telefons war, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte – fort von diesen Geräuschen und Gerüchen. Fort von diesen verschwommenen Bildern eines flüchtenden Mädchens, den Farben, die sich seinen Rücken hinaufschlängelten, explodierten und um seinen Nacken flogen gleich goldenen und kirschroten Tüchern.
    Ob der Traum eingebildet war oder nicht, alles stand ihr wieder lebhaft vor Augen, als sie wieder aufgelegt hatte. Zitternd auf dem Bett saß; neben Jack, der sich nur kurz bewegt hatte, unempfänglich für die Welt, die hinter ihr lag.
    Sie sah alles wieder vor sich.
    Die Farben waren so hell und die Geräusche so klar und deutlich wie an jenem Morgen vor zwanzig Jahren. Daran bestand kein Zweifel. Obwohl Carol nichts davon mit eigenen Augen gesehen hatte, hatte sie mit jedem gesprochen, jedem Einzelnen, der dabei gewesen war. Nun glaubte sie, wenn sie die Ereignisse im Kopf durchging, es genau so vor sich zu sehen, wie es abgelaufen war …
     
    Die Geräusche – die Schritte des Mannes auf der Wiese, als er den Hang hinauflief, sein unmelodisches Summen – wurden übertönt vom Schulhoflärm. Unter dem schrillen Kreischen pulsierte dumpfes Geplapper, eine Woge von Stimmen, die über den Schulhof rollte und weiter den Hügel hinunter zur Straße.
    Der Mann versuchte vergeblich, etwas davon zu verstehen, als er näher kam. Wahrscheinlich ging es dabei um Jungs und um Musik. Wer in war und wer out. Da war noch ein anderes Geräusch zu hören: Rasenmäherlärm von der anderen Seite der Schule, wo Gärtner arbeiteten. Sie trugen grüne Latzhosen, so wie er. Bei seinem fehlte nur das eingestickte Gemeindewappen.
    Die Hände in den Taschen und die Kappe tief in die Stirn gezogen, lief er außen um den Schulhof bis zu der Stelle, wo das Mädchen und ihre Freundinnen zusammenstanden. Einige von ihnen lehnten sich entspannt wippend an den Metallzaun.
    Der Mann zog die Heckenschere aus dem Gürtel und ging, nur eine Handbreit von den Mädchen entfernt, auf der anderen Seite des Zauns in die Hocke. Mit einer Hand begann er das Unkraut um einen der Betonzaunpfosten wegzuschnippeln, mit der anderen zog er den Brennspiritus aus der Tasche.
    Der Geruch bereitete ihm am meisten Kopfzerbrechen. Er hatte sich vergewissert, dass die Dose randvoll war. Nicht das geringste Zischen oder Gurgeln war zu hören, als er auf den Knopf drückte und die Flüssigkeit aus der Plastikdüse durch die Lücke im Zaun spritzte. Er befürchtete, ein Hauch davon könne, während die Flüssigkeit in den blauen Stoff des knielangen Rocks eindrang, nach oben entschweben und die Kleine oder eine ihrer Freundinnen warnen.
    Seine Sorge war unnötig. Als er schließlich die Dose neben sich ins Gras legte und nach dem Feuerzeug griff, hatte er mindestens die Hälfte aufgebraucht, und die Mädchen waren noch immer am Schnattern, ohne etwas zu bemerken. Es überraschte ihn, dass der Rock des Mädchens fünfzehn Sekunden lang unbemerkt vor sich hin schwelte, bevor er endlich Feuer fing. Es überraschte ihn auch, dass nicht das Mädchen selbst als Erste schrie …
    Jessica hörte nur mit einem Ohr zu, als Ali von der Party erzählte und Manda sich über den letzten Knatsch mit ihrem Freund ausließ. Sie dachte noch immer an den blöden Streit mit ihrer Mum, der sich über das ganze Wochenende gezogen hatte, und an Daddys Standpauke, die er ihr heute früh hielt, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Als Ali eine Grimasse schnitt und die anderen lachten, stimmte Jessica mit ein, ohne den Witz genau verstanden zu haben.
    Anfangs fühlte es sich an, als zerre etwas leicht an ihr, dann kitzelte es. Sie beugte sich vor, um ihren Rock hinten gerade zu ziehen. Da sah sie diesen Ausdruck auf Mandas Gesicht, sah, wie ihr Mund sich öffnete. Doch den Ton, der aus diesem Mund kam, hörte Jessica nicht mehr. Die Schmerzen an ihren Schenkeln waren bereits höllisch, und sie taumelte weg vom Zaun und begann zu laufen …
     
    Das lag lange zurück, doch Carol Chamberlain vergegenwärtigte sich die Panik und den Schmerz – schockiert wie stets, wenn sich das Unerträgliche vor ihrem geistigen Auge entfaltete.
    Schrecklich schnell. Entsetzlich langsam …
    Eine Stunde vor Tagesanbruch, im Schlafzimmer war es dunkel, aber hinter ihren Augen blitzte etwas Unnatürliches auf. Im Nachhinein, mit dem Wissen, war sie überall,
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