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In feinen Kreisen

In feinen Kreisen

Titel: In feinen Kreisen
Autoren: Anne Perry
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1
    Der junge Mann stand blass und nervös an der Tür und drehte seinen Hut in den Händen.
    »Mr. William Monk, Privatermittler?«, fragte er.
    »Ja«, antwortete Monk und erhob sich. »Treten Sie doch bitte näher, Sir.«
    »Lucius Stourbridge«, stellte der Besucher sich vor, während er ins Zimmer trat. Er hatte weder einen Blick für die beiden bequemen Armsessel noch für die Schale mit Blumen, die einen angenehmen Duft im Raum verbreiteten. Diese Dinge waren Hesters Idee gewesen. Monk hatte an der kargen und rein zweckdienlichen früheren Einrichtung des Raums nichts auszusetzen gehabt.
    »Wie kann ich Ihnen helfen, Mr. Stourbridge?«, fragte Monk und zeigte auf einen der beiden Sessel.
    Lucius Stourbridge nahm auf der Kante Platz. Er wirkte angespannt. Er musterte Monk besorgt.
    »Ich bin verlobt, Mr. Monk«, sagte er. »Meine zukünftige Frau ist der charmanteste, großzügigste und edelmütigste Mensch, den Sie sich nur vorstellen können.« Er senkte den Blick, dann sah er hastig wieder zu Monk auf. Der Anflug eines Lächelns huschte über seine Züge . »Mir ist natürlich klar, dass ich in diesem Punkt voreingenommen bin, und es muss in Ihren Ohren sehr naiv klingen, aber Sie werden feststellen, dass andere Menschen sie beinahe ebenso hoch schätzen wie ich, und auch meine Eltern haben eine ehrliche Zuneigung zu ihr gefasst.«
    »Daran zweifle ich nicht, Mr. Stourbridge«, versicherte Monk ihm, aber da er ahnte, was dieser junge Mann von ihm verlangen würde, fühlte er sich äußerst unwohl. Selbst wenn er dringend einen Auftrag brauchte, übernahm er nur sehr widerstrebend Fälle, die mit Eheproblemen zu tun hatten. Aber nachdem er gerade eine ausgesprochen kostspielige, dreiwöchige Hochzeitsreise in die Highlands von Schottland hinter sich hatte, näherte er sich unaufhaltsam dem Punkt, da tatsächlich Dringlichkeit geboten war. Er hatte ein Abkommen mit seiner Freundin und Gönnerin, Lady Callandra Daviot, demzufolge sie seine Börse zumindest so weit füllte, dass es zum Überleben reichte. Als Gegenleistung dafür hielt er sie über seine interessantesten Fälle auf dem Laufenden und schloss sie – so weit sie das wünschte – in die Ermittlungsarbeiten ein. Aber er hatte weder den Wunsch noch die Absicht, von dieser Übereinkunft weiterhin Gebrauch zu machen.
    »Welches Problem führt Sie zu mir, Mr. Stourbridge?«, fragte er.
    Lucius sah ihn todunglücklich an. »Miriam – Mrs. Gardiner – ist verschwunden.«
    Diese Eröffnung verwirrte Monk. »Mrs. Gardiner?«
    Lucius schüttelte ungeduldig den Kopf. »Mrs. Gardiner ist Witwe. Sie ist…« Er zögerte und auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Verärgerung und Verlegenheit. »Sie ist einige Jahre älter als ich. Aber das ist unerheblich.«
    Wenn eine junge Frau ihrem Verlobten davonlief, war das eine rein private Angelegenheit. Solange kein Verbrechen im Spiel war und kein Grund bestand, eine Krankheit anzunehmen, dann war es ihre eigene Entscheidung, ob sie zurückkehrte oder nicht. Normalerweise hätte Monk sich nicht um die Angelegenheit gekümmert. Allerdings war er sich im Augenblick seines eigenen Glücks so deutlich bewusst, dass er ein für ihn ganz untypisches Mitleid für diesen jungen Mann empfand, der so offensichtlich mit seiner Weisheit am Ende war.
    Er konnte sich nicht daran erinnern, je zuvor mit der Welt und dem Leben so zufrieden gewesen zu sein. Gut – es war Sommer 1860, und er wusste bis auf wenige Einzelheiten nichts mehr von seinem Leben vor seinem Kutschunfall im Jahr 1856, nach dem er ohne jede Erinnerung im Krankenhaus erwacht war. Trotzdem vermochte er sich nicht vorzustellen, dass es etwas so Wunderbares geben konnte wie das Glück, das ihn im Augenblick so vollkommen erfüllte.
    Nachdem Hester seinen Heiratsantrag angenommen hatte, war er abwechselnd in Jubelstimmung geraten und dann wieder von bösen Ahnungen heimgesucht worden, dass ein solcher Schritt das einzigartige Vertrauensverhältnis, das sie verband, für alle Zeit zerstören würde. Vielleicht konnte es keine andere Beziehung zwischen ihnen geben, die so befriedigend war wie ihre Freundschaft, Seite an Seite in leidenschaftlichem Kampf für die Gerechtigkeit. Er hatte viele trostlose Nächte wach gelegen, von der Angst gequält, etwas zu verlieren, das ihm immer kostbarer schien, je länger er über die Möglichkeit nachdachte, es eines Tages vielleicht nicht mehr zu besitzen.
    Aber am Ende hatten sich dann doch alle Ängste zerstreut.
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