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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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war dann eine Enttäuschung. Dieses Buch war noch dicker als das erste, hieß ›Der Berg des Zaubers‹ und handelte ausschließlich davon, daß alle lungenkrank sind. Ein drittes Buch von dem Autor, das den Titel trug ›Geprüfter Gelehrter, die Faust ballend‹ legte ich dann nach wenigen Seiten weg.
    Insgesamt gesehen aber ist der Stand der Literatur bei den Großnasen ganz anders als bei uns und äußerst merkwürdig. Wie Du schon aus der kurzen Zusammenfassung ersehen konntest, die mir Frau Pao-leng dargestellt hat, und die ich oben wiedergegeben habe, wird alte Literatur so gut wie überhaupt nicht gelesen. Das hängt mit der starken Veränderung zusammen, die die Sprache durchgemacht hat. Man kennt aber auch kaum noch die Namen der alten Autoren. Das liegt, meine ich, auch an der mangelnden Pietät der Großnasen. Das Alte gilt ihnen nichts. Sie halten das Neue zunächst einmal ungeprüft für besser. Ich glaube, ich habe das Beispiel schon einmal gebraucht: eine alte, ausgeleierte und geflickte Wagenachse ist ohne Zweifel weniger wert als eine neue, eben angefertigte. Das ist für viele Dinge des täglichen Lebens eine Feststellung von banaler Richtigkeit. Ein neuer Teppich ist besser brauchbar als ein zerschlissener alter, eine neue Öllampe ist zweckmäßiger als eine alte, die schon gesprungen ist, ein neuer Winterpelz ist wärmer als ein abgetragener, an dem die Nähte aufgeplatzt sind. Diesen Standpunkt dehnen die Großnasen aber auf alle Dinge aus, auch auf die Philosophie und die Literatur. So ist die mangelnde Pietät zu verstehen: sie halten eine neue Philosophie und eine neue Literatur für von vornherein besser als jede alte. Sie legen einen Wagenachsen-Maßstab an, was natürlich völlig unsinnig ist, denn nur dort ist dieser Maßstab richtig, wo es sich um Dinge handelt, die verbraucht werden. Hat man jemals gehört, daß ein Gedicht sich abnützt, wenn man es oft liest? Die Großnasen sind dieser Ansicht. Wahrscheinlich können sie nicht anders, denn sie betrachten im Grunde genommen alles unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit. Deshalb gilt ihnen Literatur, die – an sich schon ein abwegiger Gedanke – Nützlichkeit ausströmt, mehr als alles andere. Sie nennen das angebundene Literatur: solche, die sich mit Politik und Gesellschaft befaßt und in der der Autor einen heftigen Kampf für die Nützlichkeit führt. Überhaupt gilt die Gesinnung des Autors mehr als der Stil. Das ist nur folgerichtig: denn Gesinnungen nützen sich in der Tat ab wie Wagenachsen. Also müssen die Großnasen immer wieder neue hervorbringen.
    Ich war, wie Du ja weißt, anfangs gar nicht sicher, ob diese Reise, die ich – zugegebenermaßen – aus reiner Neugier unternommen habe, gut für mich war, und ich hatte starke Seelenschmerzen in dieser fernen und fremden Welt. Jetzt aber weiß ich, daß ich einen großen Schritt getan habe. Erst jetzt, in so fortgeschrittenem Alter, halte ich meine Bildung für abgeschlossen – nicht, weil ich dies alles hier, diese Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten, kennengelernt habe, nicht, weil ich weiß, wie es in einer fernen Welt aussieht, sondern weil ich den Unterschied kennengelernt habe, der in dem Versuch liegt, die Menschen zu betrachten, wie sie sind, und in dem Bemühen, darüber nachzudenken, wie die Menschen sein sollen. Ich habe mit vielen darüber geredet. Die Großnasen denken nur darüber nach, wie die Menschen sein sollen. Warum tut ihr das? habe ich immer wieder gefragt. Weil wir, haben sie gesagt, die Menschen dazu bringen wollen, so zu sein, wie sie sein sollen. Was für ein Unsinn, denke ich (gesagt habe ich es nie) – abgesehen davon, daß es hundert verschiedene, sich oft ganz und gar widersprechende Ansichten davon gibt, wie die Menschen sein sollen, bleiben die Menschen so, wie sie sind. Wie die Katze Mäuse fängt, jagt der Mensch nach Vorteilen für sich, und seit eh und je hat jeder sein Leben gewagt, um es auf Kosten anderer besser zu haben. Was helfen da die schönsten Gedankenspiele? Aber die Großnasen werden nicht müde, sie weiter zu spielen, um eine gerechte, glückliche Welt herbeizuführen. Die einen glauben, daß das möglich sei, wenn die Weisen die Führung des Staates übertragen bekommen, die anderen meinen, daß das möglich sei, wenn jeder endlich mehr hat, als er braucht, die Dritten nehmen an, daß man nur die Güter gerecht und gleichmäßig zu verteilen brauche … alles Unsinn. Das ist mein Schritt nach vorn: hier bei den
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