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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit
Autoren: Herbert Rosendorfer
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zubringen, in sich hineinzuhorchen, um dort festzustellen, wozu sie Lust haben und wozu nicht. Wenn sie merken, daß sie zu gar nichts Lust haben, schauen sie in die Luft und nennen es »spontan«. Die wahre Bedeutung der Ordnung ist ihnen verlorengegangen. Wahre Ordnung heißt vernünftiges Einfügen in die Harmonie der Realität. Dem würden die Großnasen entgegenhalten, daß die Realität nicht harmonisch sei. Dieses Argument würden die Großnasen sogar als unschlagbar ansehen. Der Berufene aber sagt, daß die Realität sehr wohl harmonisch ist, wenn man sich bemüht, die Harmonie zu erkennen, wenn man nicht ständig von sich fortschreiten will. Aber das wollen die Großnasen nicht wahrhaben. Sie springen so schwer über ihren Schatten. Sie verwechseln die Realität mit den Begriffen, die sie willkürlich erfinden. Sie haben den Bezug zur wahren Ordnung verloren. Sie sind von der wahren Ordnung fortgeschritten.
    Dabei ist es gar nicht so, daß es nicht einige gibt, die das zumindest in Ahnungen erkennen. In einem Buch eines Autors, der Ma-fa Bi-la heißt, habe ich den bemerkenswerten Satz gelesen: wer ununterbrochen fortschreitet, steht sein halbes Leben auf einem Bein. Ich habe in meinen vielen Gesprächen mit den Großnasen immer wieder diesen Satz zitiert. Alle haben zustimmend gelächelt, und dann hat sich doch wieder der Schleier des Nicht-wahr-haben-Wollens über ihre Stirn gesenkt. Es ist nichts zu machen. Ich reise ab.
    Dennoch spüre ich Wehmut. Ein Teil meiner gelebten Wirklichkeit gerinnt zur Erinnerung an diese seltsame Welt, die doch für eine lange Zeit meine Heimat war. Dies bleibt von mir in dieser Welt zurück; davon muß ich Abschied nehmen. Ich bringe aber auch meine Angelegenheiten hier in Ordnung. Ich möchte nicht, daß die Spur meiner Existenz hier in dieser Welt schlampig bleibt. Ich mache meine Abschiedsbesuche. Ein wichtiger Abschied war der von der Himmlischen Vierheit vor vier Tagen. Herr Shi-shmi und seine Freunde haben mir die Freude gemacht, jenes Musikstück zu spielen, das für mich das Tor zum Verständnis der Großnasen war: die Himmlische Vierheit aus dem Ton Yü vom Meister We-to-feng. Danach reichte Herr Shi-shmi jedem einen Becher Mo-te Shang-dong, wir erhoben uns. Herr Shi-shmi hielt eine kurze Rede, in der er sagte, daß ich, sein Freund Kao-tai, nun bald in die Heimat zurückkehren würde, und alle tranken auf einen glücklichen Verlauf meiner langen Reise. Herr Te-cho schenkte mir ein Bild, auf dem der Meister We-to-feng dargestellt ist; außerdem schenkten sie mir ein Bild, auf dem sie selber dargestellt sind, ihre Instrumente haltend.
    Dann besuchte ich Herrn Richter Me-lon und seine Frau, die mich mit köstlichen Speisen bewirtete. Wir sprachen über die wahre Ordnung, und Herr Richter Me-lon versprach mir, das ›Lun Yü‹ zu lesen, das ich ihm als Abschiedsgeschenk mitbrachte. Außerdem schenkte ich ihm ein Blatt, auf das ich in der schönsten mir möglichen Schrift die Zeichen Cheng-ming geschrieben habe sowie den Namen des Hsün K’uang.
    Herrn Yü-len-tzu schrieb ich einen Brief in die ferne Stadt, in der er lebt, und dankte ihm für die vielen Gespräche. Im Hong-tel bezahlte ich die Rechnung, deren Höhe mich allerdings etwas erschreckte. Dennoch habe ich nicht einmal die Hälfte aller Silberschiffchen verbraucht, die ich mitgenommen hatte. Als ich die Rechnung bezahlte, rief der Ober-Beschließer den Besitzer des Hong-tel, Herrn Mo, der mir versicherte, daß ich ein gerngesehener Gast im Haus gewesen sei, und er beutelte mir heftig die Hand. Ich lobte die Einrichtungen seines Hong-tel und log ihm vor, daß ich wiederkommen würde. Es gibt Lügen, die sind bedeutungslos für die Harmonie der Realität. Das habe ich bei einem Autor gelesen, den ich irrtümlich nicht erwähnt habe, als ich vom Stand der Literatur berichtete. Der Autor heißt Chei-mi-to und ist – von »jetzt« an gerechnet – vor zwanzig Jahren gestorben. In einem Buch von ihm habe ich gelesen: nur die Lüge, die man selbst glaubt, ist gefährlich; wenn man lügt und weiß das – die »freche Lüge« nennt es Meister Chei-mi-to –, so ist es ungefährlich. Das Nicht-wahrhaben-Wollen der Großnasen ist eine Große Lüge, die sie selber glauben und die deshalb gefährlich ist. Wieder siehst Du das Problem: einige der Großnasen wissen , sagen es sogar, aber niemand richtet sich danach. Sie gehen mit einem zustimmenden Lächeln darüber hinweg und ziehen dann sofort den Schleier ihrer Großen
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