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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten
Autoren: Ange Guéro
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KAPITEL 1
    Das kleine Mädchen sah den Leichnam neben sich zu Boden stürzen, reagierte aber nicht. Es war ein braunhaariger Mann, ein Freigeborener, aber die Gäste des Wirtshauses hatten ihn dennoch getötet: Er hatte den Fehler gemacht, seine Sklaven am Tag des Großen Opfers zu verstecken, um sie zu retten.
    Seine Frau begann wie ein Tier zu schreien und fiel dann schluchzend auf die Knie, aber ein Nachbar zerrte sie hoch und versetzte ihr einen solch heftigen Schlag ins Gesicht, dass ihr Blut von den Lippen strömte. Im Schankraum, der in den Fels einer Klippe gemeißelt war, herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Kinder weinten am Ende des Zimmers, Männer prügelten sich, Frauen hielten ihr spärliches Gepäck umklammert. Der Wirt war schon lange verschwunden. Nicht etwa, um die Stadtwache zu rufen: Hier in Quellhausen, einer kleinen Stadt, die zur Hälfte aus Höhlenwohnungen bestand und an der Westflanke der Berge lag, gab es keine Stadtwache mehr. Der Krieg, die Angst, der massenhafte Ansturm von Flüchtlingen und vor allem der Hunger hatten alle Strukturen und jegliches Gesetz zerstört. Jetzt drängten sich Tausende
in dieser Stadt, die in Friedenszeiten nur dreihundert Einwohner zählte.
    In den ersten Tagen, als trotz des Zustroms von Hungernden noch ein Anschein von Ordnung in der Stadt geherrscht hatte, hatten diejenigen, die Geld hatten, das Wirtshaus gestürmt und sich um das Privileg geprügelt, ein Zimmer, eine Strohschütte im Stall oder einen Platz auf der Bank zu bekommen. Der Wirt hatte ihr Gold genommen und es behalten, als zwei Tage später weitere Flüchtlinge erschöpft auf der Suche nach einem Schutz vor dem strömenden Regen wie eine Welle ins Haus geschwappt waren. Sie hatten sich über den Schankraum und die Zimmer verteilt, sich mit dreißig Leuten in einen Raum gequetscht, die früheren Bewohner vertrieben, erdrückt oder getötet. Jetzt befanden sich allein im Schankraum dreihundert Leute, die dicht gedrängt wie Sandkörner warteten, zurückgelassen wie der Schlick, den ein Fluss ans Ufer spülte.
    Das kleine Mädchen war mit ihnen gekommen. Sie hatte niemanden getötet, sie hatte niemanden verjagt, sie wollte nur ein Dach über dem Kopf und Gesellschaft.
    Sie fühlte sich so einsam.
    Sie hatte solche Angst.
    Das kleine Mädchen hieß Non’iama. In eine Ecke des Schankraums gekauert, beobachtete sie diese Fremden, die sich aneinanderdrängten, diese Menge, deren Bewegungen unberechenbar waren. Ja, die Menge war ein Fluss, und man musste sich vor ihm in Acht nehmen. Ganz wie die Oberfläche des Flusses in Sarsan, aus dem sie noch vor ein paar Monaten Wasser für ihre Herren geschöpft hatte, bewegte sich die Oberfläche der Menge in Wellen, die unauffällig wirkten, aber die Gegenwart
von Strömungen verrieten, von äußerst gewalttätigen Kräften weit unten in den trüben Tiefen des Wassers.
    Diese Strömungen kannte das kleine Mädchen gut genug, um zu spüren, wann die Situation gefährlich wurde und Gewalt plötzlich aufflackern konnte, so dass der verborgene Irrsinn auf einmal an die Oberfläche durchbrach.
    Aber jetzt noch nicht … noch nicht. Der Tod des Mannes, der damit angegeben hatte, seine Sklaven beschützt zu haben, und die kurze Aufwallung von Brutalität seiner Frau gegenüber, die gegen die Wand gestoßen und liegen gelassen worden war, hatten die ersten Wirbel wieder beruhigt. Das Weinen der Kinder hinten im Saal war plötzlich zum Erliegen gekommen, als hätte man sie rasch zum Schweigen gebracht, bevor die Wut der Mörder sich auch noch gegen sie richten konnte.
    Die Menge hatte sich beruhigt - aber vielleicht nur für einige Augenblicke. Das Gemurmel der Flüchtlinge hatte wieder eingesetzt: Gespräche mit gesenkten Stimmen, nervöse Fragen, die unbeantwortet blieben, Schluchzer der Erschöpfung. Doch Non’iama ließ sich davon nicht täuschen.
    Der Mord an dem Mann hatte nur die Oberfläche gekräuselt - aber darunter war das Wasser reißend.
    Das kleine Mädchen wusste, dass der Moment nicht mehr fern war, in dem die Menge wahnsinnig werden und die Menschen sich in Wölfe verwandeln würden.
    Sie musste vorher ins Freie.
    Hinaus … Luft schnappen. Alles hier belastete sie, die dicht gedrängten Trauben der Flüchtlinge natürlich, aber auch, dass dieser Raum direkt in den Felsen geschlagen war, mitten in das Gebirge, so dass sie den Eindruck
hatte, dass es auf ihrem Kopf lastete und die kleine Höhlenherberge erdrückte, dieses Loch voller hilfloser
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