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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten
Autoren: Ange Guéro
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verbindet, was es ihnen gestattet, zu warten, bis die Schiffe gebaut sind … was sie auf die Schiffe steigen lassen wird, wenn die Flotte erst bereit ist, verstehst du?« Er wies auf den Tempel und den Altar dahinter. »Wenn du jetzt sprichst, vernichtest du sie.«
    »Ich befreie sie.«
    »Marikani, nein …«
    »Das wirst du nicht tun.«
    Marikani und Arekh drehten sich gleichzeitig um. Lionor musterte sie sehr bleich, das Opfermesser in der Hand.
    »Das wirst du nicht tun«, wiederholte sie. »Was wirst du ihnen sagen? Dass alles eine Lüge ist? Dass du nicht Ayesha bist?«
    Marikani sah sie zögernd an. »Irgendetwas in der Art …«
    »Sie werden dir nicht glauben.« Lionor trat mit versteinerter Miene auf sie zu. »Sie werden dir nicht glauben.«
    »Ich werde darauf bestehen.«
    »Sie werden dir nicht glauben, weil du unrecht hast«, betonte Lionor. »Weil du nicht begreifst, was in dir steckt.«
    Marikani ließ Arekh los und wandte sich Lionor mit zornesfunkelnden Augen zu. »Erzähl mir nicht, wer ich bin!«
    »Wir brauchen dich nicht«, sagte Lionor leise. »Sie brauchen dich nicht. Sie brauchen Ayesha, und ihre wahre Macht liegt am Himmel. Sie beten den Himmel an …«

    Arekh las irgendetwas in Lionors Blick und trat einen Schritt vor.
    »Marikani«, sagte er und hob die Hand. »Bitte …«
    Lionor stieß zu, bevor er reagieren konnte. Das Messer drang Marikani in den Bauch, und Arekh schrie an ihrer Stelle. Er warf sich auf Lionor, aber sie hatte noch Zeit, ein zweites Mal zuzustoßen: in die Brust.
    Arekhs Hieb schickte Lionor zu Boden. Zu spät. Marikani brach mit blutigem Schaum vor den Lippen zusammen.
    »Das wirst du nicht tun«, wiederholte Lionor und stand auf. Sie warf das blutige Messer weg, drehte sich um und lief um den Tempel herum, auf den Altar zu.
    Arekh eilte zu Marikani, nahm sie in die Arme, riss ihr Hemd auf und besah sich ihre Wunden. »Du wirst durchkommen«, sagte er mit Tränen in den Augen und versuchte verzweifelt, den Blutfluss zu stillen. »Du wirst es schaffen.«
    Marikani gelang es zu lachen. »Nein«, sagte sie leise.
    Vor dem Tempel schrie die Menge vor Freude, als die Priesterinnen die Feuer entzündeten. Die Flammen loderten zum Himmel empor und tauchten Lionor und den Tempel in ein rötliches Licht. Hinter Lionor begannen die zwanzig jungen Mädchen eine eingängige, liebliche Melodie zu singen.
    Im Osten, auf dem Ozean, warteten die Schiffe.
    Lionor stieg langsam auf den Altar und trat bis an die Stelle vor, an der sich Marikani hätte befinden sollen.
    Dann hob sie die Hände. »Ayeshas Geist ist nicht in ihrem Körper«, begann sie mit klarer, volltönender Stimme, die bis zu den Sternen emporklang. »Ayeshas Geist ist im Himmel, in den Himmel aufgefahren! Ihre
Macht erleuchtet das Firmament! Ayesha erstrahlt in der Nacht und beschützt uns …«
    »Arekh«, hauchte Marikani hinter dem Tempel.
    Arekh hielt sie fest in den Armen; Tränen befleckten sein Gesicht, und die Zeit blieb stehen - blieb für einen einzigen Moment stehen, der für immer in Arekhs Gedächtnis gegraben bleiben sollte. Der Moment, in dem alle Spielzüge gemacht waren, in dem alles seinen vom Schicksal bestimmten Platz um ihn und die sterbende Marikani herum gefunden hatte: der Strand und die Felsen, die Dünen und der Tempel, der Große Tempel hinter ihnen, der Rauch, die Opfer, die Statuen und die schreiende Menge, denn jetzt schrie alles, alles schrie in Arekhs Geist, und auf dem Altar hob Lionor die Arme und schrie, und die Menge schrie, und die Priesterinnen schrien, und der Ozean schrie, und das Dunkel der hereinbrechenden Nacht schrie mit Ayeshas Stimme, und ganz allein, fern von allen, oberhalb des verlassenen Strandes, stieß Marikani einen unhörbaren Seufzer aus und wandte den Blick zum Meer, versuchte, die Segel zu erkennen.
    Dann sah sie Arekh an und suchte nach Worten. »Versprich mir, dass du es ihnen sagen wirst. Du wirst nicht zulassen, dass sie … Versprich mir, dass du ihnen die Wahrheit sagen wirst«, beharrte sie. »Ayesha … Du wirst sie nicht gewinnen lassen. Versprich es mir …«
    Arekh drückte sie an sich. Er schluchzte so sehr, dass er kaum sprechen konnte. »Ich verspreche es dir«, sagte er.
    Natürlich log er.
     
    Sie kamen zu Tausenden, überquerten die Meere in Schiffen mit weißen Segeln: die Männer, Frauen und Kinder
des Türkisvolks und die, die ihnen folgten. Sie alle hofften auf ein neues Leben, eine neue Sonne.
     
    In den Wiedergewonnenen
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