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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten
Autoren: Ange Guéro
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Feierstimmung, aber es war ein nervöses Fest. Man rechnete mit Regen, aber der Regen würde nicht kommen, nicht hier in Samara, wo es niemals regnete.
    Nur Ayeshas Ankunft würde die Spannung auf den Höhepunkt treiben, nur die Macht der Göttin würde das Unwetter losbrechen lassen.
    Die Kinder rannten umher und schrien mit zu schrillen Stimmen. Proviant und Weinschläuche gingen von Hand zu Hand.
    Lionor schritt weiter durch die Menge, spürte, wie das Gewitter sich immer stärker zusammenbraute, ließ sich vom Sturm tragen und sog die Spannung ein wie eine Droge. Das alles ist mir zu verdanken , dachte sie mit Tränen in den Augen. Der Tempel, den sie hatte bauen lassen. Die Gesänge des Kults, den sie vorangetrieben hatte. Vor ihr wiegte eine Mutter ihr Kind, und einen Moment lang hatte Lionor eine Vision ihres Sohnes, der in ihren Armen gestorben war; aber in der Vision lebte er, lernte gerade laufen und bewegte sich lächelnd über das Gras auf sie zu.
    Dann erlosch die Vision, und Lionor blieb mit zugeschnürter Kehle und neuen Tränen in den Augen reglos stehen. Ihr Sohn, ihr Kind, das gestorben war, weil Marikani geschlafen hatte. Weil sie nicht rechtzeitig aufgewacht war, um den Befehl zu geben, ihn zu versorgen. Aber in dem Moment erklangen die Lieder der Priesterinnen und
stiegen wie ein Schrei zur Sonne auf, und Lionor erinnerte sich, dass ihr Sohn für Ayesha gestorben war und nicht ihretwegen, und noch einmal vermischte sich alles, Schmerz, Erwartung und Entrücktheit, und ihr Glaube mengte sich in den Gesang und stieg mit den Stimmen der Frauen empor, stieg in den Himmel auf wie ein Ruf …
    Langsam stieg Lionor zum Großen Ayesha-Tempel empor und betrachtete ihn. Mein Werk , dachte sie, und die Stimmen der Menge hinter ihr klangen gedämpft.
    Der Hauptaltar war von sieben kleineren Feuern umgeben, die schon brannten. Sie ging hinauf, um nachzusehen, ob alles bereit war. Der Opfertisch war frisch lackiert: Heute würde eine Hirschkuh darauf ihre Kehle darbieten. Lionor nahm das Opfermesser, wog es in der Hand und prüfte die Klinge mit dem Finger. Nicht scharf genug. Mit dem Messer in der Hand sah sie zu dem Platz hinüber, an dem Ayesha stehen würde, wenn die Nacht anbrach und das türkisfarbene Licht den Himmel entflammen würde.
    Dann würden die Feuer auflodern, gewaltige Feuerstellen zur Erinnerung an diejenigen, die vor Reynes gebrannt hatten.
    Lionor blieb einen Moment lang reglos stehen, um ihr Werk zu betrachten. Heute Abend würde die Schönheit hervorbrechen. Heute Abend würden alle Ayeshas Macht anbeten.
    Sie fuhr mit dem Finger noch einmal über die Messerklinge und stieg hinab.
     
    Die Schatten wurden lang, und Marikani war noch immer nicht zurück.
    Mit jeder Stunde wuchs Arekhs Besorgnis. Day-Yan
hatte Haîk eingeweiht, Marikanis zweiten Vertrauten, und Haîk hatte zwanzig verlässliche Männer unterrichtet und ihnen gedroht, ihnen die Kehle durchzuschneiden, wenn sie von Ayeshas Verschwinden sprachen. Sie mussten alles unternehmen, damit sich keine Gerüchte verbreiteten.
    Gemeinsam waren sie den Strand abgegangen und hatten an allen Orten gesucht, an denen die Flut einen Leichnam antreiben konnte. Dann hatten sie den Hügel, die Höhlen und die umliegenden Dörfer abgesucht. Ohne Erfolg.
    Nach einer Weile zog Day-Yan Arekh in die Nähe der Terrasse. Er sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand lauschte.
    Dann wandte er sich Arekh zu. »Wenn wir ihre Leiche finden -, begann er.
    »Nein«, unterbrach ihn Arekh. »Sie ist nicht tot.«
    Day-Yan packte ihn am Arm. »Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen. Wenn wir ihre Leiche finden, müssen wir sie sofort begraben.« Er wies auf die Menschenmenge, die sich vor dem Tempel drängte. »Sie dürfen nichts erfahren. Eine Göttin stirbt nicht.«
    »Marikani ist nicht tot«, wiederholte Arekh.
    Aber Day-Yan ignorierte ihn. »Wir werden ihre Leiche verschwinden lassen. Ihr werdet das Ayesha-Volk in die neuen Lande führen«, fuhr er fort. »Ihr und Lionor. Für die Leute seid Ihr der Erwählte Ayeshas. Ihr wart im Augenblick des Großen Opfers anwesend. Ihr habt den König der Sakâs getötet. Ihr und sie … Sie hätte gewollt, dass Ihr die Nachfolge übernehmt. Dass Ihr die Schiffe zusammen mit der Hohepriesterin über den Ozean führt. Mit Lionor.«

    »Ich bin kein ehemaliger Sklave«, protestierte Arekh. »Ich gehöre nicht zum Türkisvolk.«
    Day-Yan zuckte mit den Schultern. »Das Leben ist voller Ironie, Morales. Ayesha wollte
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