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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten
Autoren: Ange Guéro
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mehr sie selbst zu sein und etwas verloren zu haben, zu spüren, dass ihr die Ereignisse entglitten, kam sicher nur daher. Das war nicht schlimm, alle Eroberer, die Könige geworden waren, hatten das durchmachen müssen. Nachdem man mit Leben und Tod gespielt hatte, musste man sich entschließen, ins Alltägliche zurückzukehren. Marikani würde sich daran gewöhnen, und alles würde gut werden.
    Ja, das war der Grund für ihr Unbehagen …
    Da war nichts anderes.
    Nein, nichts anderes …
    Marikani setzte sich wieder hin, aber sie fühlte sich noch immer schlecht. Ihre Lunge zog sich zusammen, als ob sie ersticken würde. Es war mild, vielleicht zu mild.
Zu warm. Sie stand erneut auf. In ihren Träumen hatte sie oft den Ozean gesehen. Die Wellen, die nachts an den Strand brandeten, die salzige Gischt. Und sie hatte sich die Lunge mit der Luft der Freiheit gefüllt. Im Schlaf war das Meer frisch gewesen, hatte nach Algen und Salz geschmeckt. Ihre Haare hatten im Wind geflattert.
    Hier, in Samara, fühlte sie sich zwischen Sand und Hitze gefangen.
    Aufgeschoben ist nicht aufgehoben , dachte sie. Sie würde bald den Wind, die Wellen und die Schiffe, die den Ozean durchschnitten, bekommen, die Flotte musste nur erst gebaut werden, das war alles. Der Bau dauerte lange, zwei Jahre des Wartens konnten endlos wirken, aber sie würden vergehen. Und dann würde sie übers Meer fahren.
    Ich werde aufbrechen , flüsterte sie. Ich habe genug. Ich will fort.
    Ich will fort .
    Und plötzlich fehlte Arekh ihr fürchterlich. Er würde kommen, sicher binnen weniger Augenblicke, aber auch in der Hinsicht konnte Marikani nicht länger warten. Wenn er sich noch mehr Zeit ließ, würde sie schreien: Sie musste ihn sehen, ihn berühren. Sie musste mit ihm über das sprechen, was sie quälte. Arekh war nicht diplomatisch, er würde direkt auf den Kern der Sache zu sprechen kommen, sie konnte sich auf ihn verlassen. Ihr Verhältnis war schwierig, schmerzhaft, leidenschaftlich. Aber unentbehrlich.
    Marikani fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Lionor hatte eindeutig recht, sie war krank, das Fieber stieg. Ihre Gedanken umnebelten sich, sicher war sie deshalb so nervös und ungeduldig.
    Alles würde gut sein, wenn Arekh erst da war.

    Schritte draußen, auf dem Holz. Die junge Frau zuckte zusammen. Ihr Herz machte einen Sprung.
    Die Tür öffnete sich, und Arekh erschien auf der Terrasse.
    Marikani begriff sofort, dass etwas nicht in Ordnung war.
     
    Arekh trat wortlos mit harter Miene auf sie zu.
    Sein Blick war so kalt, dass Marikani den Eindruck hatte, jemand hätte einen Eimer eisgekühlten Wassers über ihm ausgegossen. Ihre Begeisterung fiel in sich zusammen. Sie schwieg, musterte Arekh, versuchte, eine Erklärung zu finden, die nicht besorgniserregend war. Vielleicht war er müde, angespannt.
    Arekh blieb vor dem Tisch stehen, und sie starrten einander einen Moment aus drei Schritt Entfernung an.
    Die junge Frau suchte verzweifelt nach etwas, das sie sagen könnte. »Hast du eine gute Reise gehabt?«
    »Was ist Non’iama zugestoßen?«, fragte Arekh tonlos.
    Marikani erstarrte. Draußen stiegen die Gesänge ins Dunkel und erfüllten die Stille. »Hast du sie gesehen?«
    »Ich habe sie gesehen und mit ihr gesprochen.«
    »Oh.«
    Marikani wandte den Blick ab und machte einige Schritte, bevor sie sich wieder umdrehte. Ein Schauer durchlief sie. Jetzt fror sie. Vor einigen Augenblicken war die Hitze noch so stark gewesen, dass sie nicht hatte atmen können, aber nun war ihr eiskalt.
    »In dem Fall ist deine Frage rhetorisch«, sagte sie und hielt seinem Blick stand. »Du weißt bereits, was ihr zugestoßen ist.«
    »Du hattest mir versprochen, sie zu beschützen«, entgegnete
Arekh mit rauer Stimme. »Du hattest versprochen, sie nicht in Gefahr zu bringen. Und doch hast du sie als Köder für den König der Sakâs eingesetzt.«
    Marikani zuckte die Achseln. »Das war die beste Lösung.«
    »Die beste Lösung?«
    Diesmal war irgendetwas in Arekhs Stimme gebrochen. In seinem Tonfall klang Leid durch, und Marikani musste sich davon abhalten, zu ihm zu eilen. Sie sahen sich an, und Marikani begriff, dass auch ihm die sechs Monate endlos erschienen waren, dass auch er auf ihr Wiedersehen gewartet hatte und dass die Enttäuschung und der Beigeschmack von Verrat deshalb nur umso bitterer waren.
    Sie holte tief Luft. »Der … der König der Sakâs vertraute Non’iama«, versuchte sie zu erklären. »Wenigstens so weit, wie er überhaupt
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