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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten
Autoren: Ange Guéro
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das ein Geheimnis? Denn ich habe schon vielen Leuten davon erzählt.«
    »Nein, das ist kein Geheimnis«, seufzte Marikani. »Du warst heldenhaft, Non’iama. Du hast allen Grund, davon zu erzählen. Die Leute sollen wissen, welchen Gefahren du dich ausgesetzt hast. Es ist nur …«
    »Was?«, fragte Non’iama.
    »Ich wollte dich um Verzeihung bitten.« Das kleine Mädchen sah sie verständnislos an, und Marikani fügte hinzu: »Wegen … wegen deiner Schulter. Ich habe dich damals angelogen. Ich habe dich belogen, um den König der Sakâs in die Falle zu locken. Und ich wollte dir sagen … Ich wollte, dass du es verstehst. Warum ich dich dorthin geschickt habe, trotz meines Versprechens an Arekh. Es war wichtig, Non’iama. Unerlässlich. Du erinnerst dich doch an die Belagerung von Reynes. Die Armee …«
    »Ihr müsst mir das nicht erklären«, sagte das kleine Mädchen. »Ich weiß, warum.«
    Marikani runzelte die Stirn.
    »Weil Ihr Ayesha seid«, fuhr Non’iama fort, »und alles, was Ayesha tut, richtig ist. Meine Schulter ist verletzt, aber das ist nicht schlimm. Das ist gar nicht wichtig. Und
wenn ich gestorben wäre, wäre das auch nicht wichtig gewesen.«
    »Non’iama …«
    »Ich habe doch recht, nicht wahr?«, unterbrach das Kind sie lächelnd. »Das denken wir alle, versteht Ihr? Wir denken alle dasselbe.« Sie deutete auf die Familien, die um sie herum schliefen, die Zelte, den provisorischen Tempel und den im Bau befindlichen Großen Tempel in der Ferne. »Wir würden unser Leben für Euch geben. Wenn Ihr uns in die Abgründe führen würdet, würden wir Euch folgen. Ihr müsstet es uns nicht erst erklären oder uns sagen, warum. Denn wir stehen im Licht der Ayesha, und unsere Anbetung ist blind.«
    Marikani sah sie stumm an.
    Und wurde sehr blass.
     
    Arekh hielt nur sechs Stunden durch, bis er zurückkam.
    Er durchquerte das schlafende Lager und klopfte an Marikanis Tür. Er wusste nicht, was er sagen oder tun würde, und auch nicht, ob er weitere Vorwürfe aussprechen, sich erklären oder reden wollte. Mit klopfendem Herzen schwankte er zwischen Wut, Bitterkeit und tieferen Gefühlen. Er wartete.
    Keine Antwort.
    Arekh klopfte erneut, ohne Erfolg. Er wartete wieder.
    Dann stieß er die Tür auf und trat ein.
    Niemand. Weder im Hauptraum noch auf der Terrasse.
    Marikani war verschwunden.
    Er suchte das ganze Lager ab, unauffällig, um niemanden zu beunruhigen. Am Morgen war Marikani noch immer nicht zurück. Non’iama war die Letzte, mit der sie gesprochen hatte.

    Der Morgen verging, und Arekh entschloss sich, Day-Yan zu unterrichten. Gemeinsam durchsuchten sie, immer noch möglichst unauffällig, das Lager, die Werften und die Umgebung. Ohne Erfolg.
    Oben auf dem Hügel wurde die Zeremonie vorbereitet. Alles war schon seit Wochen geplant: die Gesänge, die Tänze, die Reden, die Feuer, die die Priesterinnen gleichzeitig entzünden würden, um an die zu erinnern, die vor Reynes entzündet worden waren. Das würde ein Höhepunkt für Ayesha sein, die schönste Zeremonie, die je zu ihren Ehren abgehalten worden war, und in der Menge braute sich Spannung zusammen wie ein Gewitter.
    Lionor, Hannaï und die Priesterinnen eilten geschäftig umher, um die zeremoniellen Tische vor dem Hauptaltar zu decken: sowohl die Tische, die nur für Opfer vorgesehen waren, als auch die, auf denen Speisen und Wein stehen sollten.
    Seit dem späten Vormittag strömte die Menge zusammen. Alle Lagerbewohner hatten sich natürlich versammelt, ebenso die Verbannten, aber sie waren nicht die einzigen. Es waren auch Schaulustige aus den umliegenden Städten gekommen, Einwohner von Kinshara, die die Göttin sehen wollten. Und noch andere: aus Kiranya, aus Sleys. Manche waren, wie Lionor bemerkte, als sie über die grasbewachsenen Hänge schritt, sogar aus Reynes gekommen. Sie hatten die Ruinen und die von den Sakâs verwüsteten Landstriche durchquert und manchmal alles zurückgelassen, um hierherzukommen.
    Die Sonne brannte. Der Himmel war tiefblau. Die Farben des Großen Ayesha-Tempels strahlten unbarmherzig, die Hitze des Feuers ließ die Luft flirren. Vögel schrien am Himmel; ihre Rufe zerrten an den Nerven wie Metall,
das über Metall schrammte. Bald war die Umgebung des Tempels völlig überlaufen: von Familien, Pilgern, Neugierigen und Gläubigen. Der Hügel allein reichte nicht aus, und wie eine Steinlawine überschwemmte die Menge auch die benachbarten Anhöhen, die Grasflächen, den Strand. Es herrschte
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