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Das Albtraumreich des Edward Moon

Das Albtraumreich des Edward Moon

Titel: Das Albtraumreich des Edward Moon
Autoren: Jonathan Barnes
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ZWEI
    Wir beginnen mit Cyril Honeyman.
    Honeyman war ein feister, schwerfälliger Mensch,
der andauernd schwitzte und dessen Hängebacken beim Gehen bebten und
flatterten. Nur wenige Seiten trennen uns von seinem Tod.
    Also hängen Sie Ihr Herz bitte nicht an seine
Person; ich habe nicht die Absicht, mich in den Einzelheiten seines Charakters
zu verlieren – er ist bedeutungslos, ein Statist, ein wandelnder Leichnam.
    Folgendes jedoch sollten Sie erfahren: Cyril
Honeyman war Schauspieler – und zwar ein miserabler. Und unter »miserabel«
verstehe ich nicht bloß »unfähig«. Er war hoffnungslos und unverbesserlich
schlecht, eine Schande für seinen Berufsstand, ein Schmierenkomödiant, der sich
den Weg auf die Bühne mit Geld teuer erkauft hatte und die üppigen Zuwendungen
seiner allzu nachsichtigen Eltern vergeudete, indem er sich für erkleckliche
Summen die Rosinen aus dem jeweiligen Rollenangebot pickte. Zum Zeitpunkt
seines Todes bereitete er sich darauf vor, in irgendeiner glücklosen
Flohquetsche, die auf verzweifelter Geldsuche war, in einer Aufführung von
Romeo
und Julia
den Paris zu geben. An jenem gewissen Abend zechte er zusammen
mit dem Rest des Ensembles, das zu einem großen Teil nahezu ebenso erbärmlich
talentlos war wie er. Er verließ die Runde gegen Mitternacht mit der Ankündigung,
nach Hause zu gehen, um an seiner Rolle zu feilen, hatte jedoch in Wahrheit ein
ganz anderes Ziel und einen ganz anderen Zeitvertreib im Auge. Er ließ den
Theaterdistrikt hinter sich und machte sich mit Entschlossenheit und
feuchtklebrigen Händen zu Fuß auf den fast einstündigen Weg in eines der
verrufensten Viertel der Stadt. Schon der Gang dorthin erregte ihn; er genoss
das unbestimmte Gefühl des Sündigens, das er ihm schenkte, den Hauch des
Verbotenen.
    Eine Ewigkeit lang, so schien ihm, durchschritt er
die Straßen, sog die ungesunde Luft ein und ergötzte sich am schändlichen
Zustand der hier Ansässigen. Der Bahnhof war seit Stunden geschlossen, die
ehrbaren Bürger hatten sich längst in ihre Betten zurückgezogen, und in den
Straßen machten sich Liederlichkeit und Laster breit. Honeyman erschauerte vor
sündhafter Lust, während er sich durch dunkle Gassen und Gässchen, die nur vom
schwachen, matten Licht der Gaslampen erhellt wurden, weiter in dieses moderne
Gomorrha hineinwagte.
    Nebel war aufgekommen und verlieh den Straßen
einen unheimlichen, geisterhaften Schein; die Menschen, an denen Honeyman
vorbeikam, muteten ihn verschwommen und unwirklich an, nicht leibhaftig –
wie Figuren aus einem Märchenbuch. Sie sprachen ihn an, bettelten um Brot oder
Almosen, versprachen schlüpfrige Vergnügungen oder boten sich selbst feil. Doch
Honeyman schritt an ihnen allen vorbei. Zu oft war er schon hier gewesen und
mittlerweile abgestumpft und an den Anblick des Menschengeschlechts in seinem
elendsten und verderbtesten Zustand gewöhnt. Heute war er auf der Suche nach
neueren und ruchloseren Genüssen. Er wollte tiefer in die Verworfenheit sinken.
    Unter einer Gaslaterne erblickte Honeyman eine
Frauengestalt. Für diese Gegend war sie gut gekleidet – eine schmucke Haube
schicklich auf dem Kopf und die geschmeidige Figur betont durch ein Kleid, das
ein Erkleckliches mehr enthüllte, als in feineren Kreisen durchgegangen wäre.
Ihre Haut mochte einst glatt und porzellanweiß gewesen sein, doch nun war sie
vernarbt und von einer leichten Schmutzschicht überzogen. Die Stadt zeigte kein
Erbarmen mit Frauen ihres Schlages.
    Honeyman trat näher an sie heran und lüftete den
Hut zum Gruße. Selbst im fettigen Ockergelb des Laternenscheins waren ihre
Jugend und Schönheit unübersehbar. Ein Freudenmädchen, gewiss, aber noch nicht
lange im Geschäft. Eine Dirne, jedoch eine, die noch frisch und unverbraucht
war.
    »Suchst du was Bestimmtes?«, fragte sie.
    Honeyman starrte sie an; sein Blick leckte
schamlos an ihrer Gestalt. Gewiss konnte sie nicht älter als achtzehn sein.
Beinah ein Kind noch …
    Mit einem listigen Grinsen sagte er: »Mag sein.«
    »Willst du wissen, wie viel?«
    »Nur weiter«, murmelte er.
    »Grade so viel, dass es mir ein Bett für heut
Nacht verschafft. Mehr verlange ich nicht.«
    »Aber meine Liebe! Du bist doch ein zu edles
Geschöpf, um die Zeit hier draußen zu vertrödeln! Eine Perle unter Säuen!«
    Wenn sie sein plumpes Kompliment überhaupt
wahrgenommen hatte, so ließ sie es sich nicht anmerken. »Willst du mitkommen?«
    »Denkst du an einen bestimmten Ort?«
    »An
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