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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten
Autoren: Ange Guéro
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der Gedanke ans Essen quälte sie im Laufe der unendlichen Stunden, die sie in der Dunkelheit des Kellers zubrachten, sehr oft. Sie saßen aneinandergeschmiegt auf dem Boden, atmeten die Luft, die vom durchdringenden, süßlichen Geruch der Eichenfässer geschwängert war …
    … und warteten.
    Warteten auf Manros’ Rückkehr.
    Manros war der Wirt. Der, der das Gold seiner Gäste genommen hatte und dann geflohen war, als die Situation ihm entglitten war. Natürlich ein freier Mann, angesehen, reich dank der Einkünfte aus seinem Wirtshaus - aber auch dank zahlreicher Schmuggelgeschäfte. Quellhausen, das an der Bergflanke im Herzen der Welt lag, war ein für den Schwarzmarkt bestens geeigneter Ort, und Manros schreckte vor nichts zurück. Er verkaufte alles - Informationen,
Handelsware, die eigentlich den Gilden des Emirats vorbehalten war, Gewürze und Salz -, ohne Steuern dafür zu zahlen.
    Ein Mann, dem die Gesetze ebenso gleichgültig waren wie die Götter.
    Und auf diesem Mann ruhten die Hoffnungen der fünf Sklaven im Keller - und nun auch die Non’iamas, obwohl sie Manros noch nie gesehen hatte.
    Denn obgleich Manros sonst keinerlei Prinzipien hatte, hatte er sich seinen Sklaven gegenüber loyal gezeigt. Sklaven, denen gegenüber er zu nichts verpflichtet war und über deren Leben und Tod er bestimmen konnte, Sklaven, die ihm, als die Zeit des Großen Opfers gekommen war, nichts mehr hatten einbringen können - bis auf ein Todesurteil wegen Häresie. Und dennoch hatte er sie beschützt. Als die Milizen die Stadt durchkämmt hatten, um die Mitglieder des Türkisvolkes zum Großen Opfer zusammenzutreiben, hatte Manros sie versteckt, ernährt und beschützt. Er war jedes Risiko eingegangen, um sie am Leben zu halten.
    Und das Risiko war immer größer geworden.
    Die Sklaverei in den Königreichen war schließlich von den Göttern festgesetzt. Die Sterne bildeten um den türkisfarbenen Stern die Rune der Knechtschaft - also hatten die Götter das Türkisvolk zur Sklaverei verurteilt und sein Schicksal in den Sternen festgeschrieben.
    Diese Sklaverei bestand schon seit Tausenden von Jahren, ohne Hoffnung auf Erleichterung: Wer konnte ein Urteil aufheben, das am Himmel geschrieben stand? Dann aber war eine Frau erschienen: Sie trug den Namen Marikani, doch in Wirklichkeit war sie die Göttin Ayesha. Am Tag des Großen Opfers, dem Tag, an dem alle
erwachsenen Sklaven auf dem Altar hatten sterben sollen, hatte sie den Arm gehoben, und der türkisfarbene Stern war am Nachthimmel explodiert, hatte das Firmament in Brand gesetzt, war auf das Zehnfache seiner Größe angewachsen und hatte mit seinem Licht den Schimmer der umgebenden Sterne ausgelöscht - und damit die Rune der Knechtschaft.
    Die Nacht war blutig gewesen. Auf allen Altären hatten die Sklaven rebelliert: Hatten denn die Götter nicht den Befehl gegeben, sie freizulassen? Am folgenden Morgen, als die Überlebenden in die Wälder geflohen waren, hatten die Einwohner der Königreiche verstört zugesehen, wie die Sonne an einem neuen Himmel aufgegangen war. Sie hatten auf den Schwellen ihrer Häuser gestanden und zum Firmament emporgeblickt.
    Einen Moment lang hatte ihr Schicksal in der Schwebe gehangen. An diesen Moment erinnerte Non’iama sich sehr gut. An jenem Morgen war sie an Arekhs Hand zum Marktplatz von Nôm hinuntergegangen, und einen Herzschlag lang hatte sie im zarten Licht der Morgenröte an ein Wunder geglaubt. Sie hatte geglaubt, dass die Zeit des Aufstands und des Hasses vorüber sei, dass mit dem Sonnenaufgang ein neues Zeitalter beginnen würde. Sie hatte geglaubt, dass die Herren ihre einstigen Sklaven umarmen und Brüder nennen würden, dass die freien Frauen und Sklavinnen sich weinend in den Armen liegen würden, dass es keine Ketten, keinen Hass, keine Verfolgungen und keinen Stahl mehr geben würde. Die Götter hatten gesprochen. Die Männer und Frauen des Türkisvolks würden friedlich in die Stadt zurückkehren, und ebenso friedlich würden die freien Menschen sie aus Achtung vor dem göttlichen Ratschluss empfangen: Sie
würden ihnen die Hälfte ihrer Häuser und Felder schenken, und die Völker würden zusammenwachsen und bald nur noch eines bilden …
    Aber so war es nicht gekommen.
    Einige hatten es allerdings versucht. Der Tischler von Nôm hatte eine blonde Sklavenfamilie aus seiner Scheune hervorgeholt: seine Sklaven, die er, wie Manros, versteckt hatte, damit sie dem Großen Opfer entkommen konnten. Vor der versammelten
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