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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt
Autoren: M Mazzantini
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Die Reise der Hoffnung
    Die Reise der Hoffnung … Restwörter unter den vielen auf dem Grund des Tages. Ich habe sie in der
Apotheke gelesen, auf einem Glasbehälter neben der Kasse, da war ein Schlitz
für das Geld und das mit Klebeband befestigte Foto eines Kindes, eines von
denen, die für eine Operation weit fortgeschickt werden müssen, auf eine Reise
der Hoffnung eben. Ich wälze mich auf dem Kissen herum, kaue laute Atemzüge.
Betrachte Giulianos reglosen, schweren Körper. Er schläft, wie er immer
schläft, auf dem Rücken, mit nacktem Oberkörper. Von Zeit zu Zeit dringt ein
kleines Grunzen aus seinem Mund, wie bei einem trägen Tier, das Essigfliegen
verscheucht.
    Hoffnung , ich denke über dieses Wort nach, das
in der Dunkelheit Gestalt annimmt. Es hat das Gesicht einer leicht erschütterten
Frau, einer, die ihre Niederlage mit sich herumschleppt, sich aber würdevoll
trotzdem weiter durchschlägt. Vielleicht mein Gesicht, das eines gealterten
Mädchens, reglos in der Zeit, aus Treue, aus Ängstlichkeit.
    Ich gehe auf den
Balkon, sehe das Übliche. Das Haus gegenüber, seine angelehnten Fensterläden.
Die Bar mit dem erloschenen Schild. Es herrscht die Stille der Stadt, Staub
ferner Geräusche. Rom schläft. Es schläft sein Glanz, sein Sumpf. Es schlafen
die Vorstädte. Es schläft der Papst, seine roten Schuhe sind leer.
    Der Anruf kommt in
aller Herrgottsfrühe. Ich fahre hoch, als es klingelt, stolpere durch den Flur
und schreie vielleicht, um wach zu wirken.
    »Wer ist da?«
    Im Hörer rauscht es,
wie Wind auf der Flucht durch die Zweige.
    »Kann ich mit Gemma
sprechen?«
    Das Italienisch ist
gut, doch die Wörter klingen abgehackt.
    »Am Apparat.«
    »Gemma? Bist du es,
Gemma?«
    »Ja …«
    »Gemma …«
    Er wiederholt meinen
Namen und lacht jetzt dabei. Ich kenne dieses heisere, zerrissene Lachen, es
springt mich sofort an.
    »Gojko.«
    Er macht eine Pause.
    »Ja, dein Gojko.«
    Eine reglose
Explosion. Eine lange Leere, die sich mit Trümmern füllt.
    »Mein Gojko«, stammle
ich.
    »Genau der.«
    Sein Geruch, sein
Gesicht, unsere Jahre.
    »Ich versuche schon
seit Monaten, dich über die Botschaft zu finden.«
    Vor ein paar Tagen
habe ich an ihn gedacht, auf der Straße, aus dem Nichts heraus, als ein Junge
vorbeiging, er sah ihm wohl ähnlich.
    Wir plaudern: Wie geht’s? Was machst du so? Ich war ein
paar Jahre in Paris, jetzt bin ich wieder zu Hause .
    »Sie planen eine
Ausstellung, um an die Belagerung zu erinnern. Diegos Fotos sind auch dabei.«
    Die Kälte des
Fußbodens kriecht meine Beine hoch, im Bauch hält sie an.
    »Das ist eine gute
Gelegenheit.«
    Wieder lacht er so,
wie nur er lachte, ohne wirkliche Freude, vielmehr um eine leise, doch stetige
Traurigkeit zu lindern.
    »Komm her.«
    »Ich überleg’s mir, ja …«
    »Du sollst nicht
überlegen, du sollst herkommen.«
    »Warum?«
    »Weil das Leben
vergeht und wir mit ihm. Weißt du noch?«
    Natürlich weiß ich
noch.
    »Und es lacht uns aus
wie eine alte, zahnlose Hure, die auf ihren letzten Freier wartet.«
    Gojkos Gedichte … das
Leben wie eine lange Ballade. Mir fällt seine Art wieder ein, sich an die Nase
zu fassen, sie zu kneten wie weiches Wachs und dabei Gedichte aufzusagen, die
er auf die Schachteln von Wachsstreichhölzern und auf seine Hände schreibt. Ich
bin im Slip, barfuß. Gojko ist am Leben, er ist die ganze Zeit am Leben gewesen.
Plötzlich frage ich mich, wie ich es die ganze Zeit ohne ihn ausgehalten habe.
Wie kommt es nur, dass wir im Leben auf die besten Menschen verzichten und uns anderen
zuwenden, die uns nichts angehen, die uns nicht gut tun, die uns einfach über
den Weg laufen, uns mit ihren Lügen bestechen und uns daran gewöhnen,
Angsthasen zu werden?
    »Gut, ich komme.«
    Der fest gewordene
Schlamm des Lebens zerfällt zu Staub und fliegt mir entgegen.
    Gojko jubelt, er
schreit vor Freude.
    Auch als ich Sarajevo
verließ, war da Staub, der sich vom eisigen Wind aufgewirbelt von den Dingen
erhob, durch die Straßen stob und alles hinter sich auslöschte. Er verdeckte
die Minarette, die Wohnblocks und die Toten auf dem Markt. Sie waren begraben
unter Gemüse, Krimskrams und den Holzteilen umgerissener Stände.
    Ich frage Gojko,
warum er mich erst jetzt gesucht hat, warum er erst jetzt Sehnsucht nach mir
hat.
    »Ich habe schon seit
Jahren Sehnsucht nach dir.«
    Seine Stimme
verschwindet hinter einem Seufzer. Wieder rauscht es wie von Wind … von
kilometerweiter Entfernung.
    Auf einmal habe ich
Angst,
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