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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten
Autoren: Ange Guéro
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über ihnen zeigten, dass die Flüchtlinge erwachten. Obwohl er keinen Namen genannt hatte, wussten alle, wen er meinte. »Wenn wir ihr auf dem Steinboden das Genick brechen, wird sie lautlos sterben. Rohes Fleisch ist zwar nicht schön, aber es wird uns zumindest ermöglichen, vier
oder fünf Tage länger zu überleben, die Zeit, die Manros vielleicht braucht, um zurückzukommen.«
    Einen Moment lang herrschte Schweigen im Keller. Die vier funkelnden Augenpaare musterten Non’iama, ohne zu blinzeln. Sie spürte, wie Miu sich neben ihr anspannte, dann aber ihre Wut herunterschluckte und sich sicher Argumente überlegte, die wirkungsvoller als Zorn sein würden.
    »Wir haben noch Brot«, sagte Berus-Alm. »Wenn keines mehr da ist, können wir weitersehen.«
    Die Sklaven hatten die letzten Vorräte der Herberge mit durch die Falltür genommen: etwas Brot für jeden und Wasser. Miu hatte ihren Anteil wie versprochen mit Non’iama geteilt.
    »Du räumst ihr nur eine Gnadenfrist ein, weil sie dich an deine Tochter erinnert«, sagte Afa mit einem Unterton spöttischer Bosheit. »Aber deine Tochter ist tot, Berus, und wir werden alle krepieren, wenn wir keine Vorkehrungen treffen.«
    »Nicht, bevor das Brot aufgebraucht ist«, wiederholte Berus. »Das ist mein letztes Wort.«
    Endlich sprach Miu in ausdruckslosem, kaltem Ton. »Wenn ihr dieses Mädchen anrührt«, erklärte sie völlig ruhig, als ob sie nur ein Pastetenrezept erläuterte, »dann schreie ich. Ganz lange, ohne aufzuhören. Wenn ich schreie, werden sie es da oben hören. Sie werden die Falltür suchen und finden.«
    Ihre Aussage rief neuerliches Schweigen hervor. Die vier Augenpaare funkelten noch immer; ihre Besitzer dachten nach. Erwogen den neuen Stand der Dinge. Fragten sich sicher, ob es nicht das Beste sein würde, auch Miu zu töten. Wenn das denn möglich war, ohne dass Non’iama
ihrerseits zu schreien begann und so die Flüchtlinge aufmerksam machte.
    » Die Unfreiheit ist nicht in den Ketten begründet «, sagte plötzlich eine Stimme.
» Sondern im Herzen.
Die Angst ist es, die lastet.
Reißt in meiner Seele den Himmel auf,
Blau und kalt, über dem Ozean,
Ich flehe euch an,
Tragt meine Augen
Über den Ozean,
Denn in mir singt der Lockruf des Eises … «
    Sie zuckten alle zusammen und starrten verblüfft Bû an. Er hatte den Blick zu Boden gesenkt und die Worte langsam gesprochen, als sage er ein Gedicht auf. Den Text kannten sie alle - es war die letzte Strophe eines der alten Sklavenlieder, die irgendwie von Generation zu Generation weitergegeben wurden, eines der Lieder, die hagere Frauen ihren zu blassen Wickelkindern vorsangen, ohne den Sinn so recht zu verstehen.
    Einen Moment lang hörten die Augen auf, Non’iama feurig zu verschlingen. Afa wandte den Blick ab, und Berus-Alm seufzte leise, fast unhörbar. Sî musterte seinen Bruder mit aufgerissenem Mund völlig erstaunt, als ob er sich fragte, ob Bû besessen sei. Miu senkte den Kopf.
    Dann ging der Augenblick vorüber.
    Und auch ein weiterer Tag. Dort oben waren die Flüchtlinge wach, das Holz knarrte gequält, und die Stunden vergingen; ihre Eintönigkeit wurde nur durchbrochen, wenn Stimmen aufschrien, leise Gespräche stattfanden,
Schritte erklangen oder jemand weinte. Sicher gingen die Männer ins Freie, um die Lage auszukundschaften oder verzweifelt Nahrung oder Wasser zu suchen. »Sie kommen!«, sagte irgendjemand, und die Menge geriet in Aufregung. Wer? Die fünf Sklaven diskutierten im Dunkeln rasch darüber und wurden sich am Ende einig, dass es die Sarsen sein mussten - oder Banditen.
    Es sei denn, alles war nur ein Gerücht, eine grundlose Panik … Was, wenn es keine Eindringlinge gab?
    Waren noch Lebensmittel in der Stadt, oder würden alle verhungern - alle Einwohner, ob sie nun oben oder unten waren, an der frischen Luft oder im Wirtshaus, in der Küche oder im Keller?
    Und die Stunden schleppten sich weiter dahin; über ihnen wurde die Stille gelegentlich vom heiseren, heftigen Husten eines Kindes unterbrochen. Non’iama kam zu dem Schluss, dass es sich um einen kleinen Jungen handelte.
    Sie begann, jegliches Zeitgefühl zu verlieren. Oder vielleicht auch den Verstand. Die Dunkelheit und der Stein drangen ihr unter die Haut, ertränkten ihre Gedanken, ihre Energie. Manchmal konnte sie sich kaum noch daran erinnern, wer sie war oder warum sie hier war.
    Aufs Neue wurde der Lärm oben schwächer, wie ablaufendes Wasser. Im Keller rührten sich alle kaum, und diese
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