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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten
Autoren: Ange Guéro
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aus. Ohne Mius Eingreifen wäre sie dagegen schon tot gewesen und hätte nicht lange leiden müssen - nur einige Augenblicke, lange genug, um zu schreien, bevor ihr Herz zu schlagen aufhörte. Und Miu hatte sie aus reiner Güte, indem sie sie vor diesem Schicksal bewahrt hatte, in einen weitaus schlimmeren Albtraum gestoßen. Non’iama lebte und war doch schon begraben - aber selbst ein Grab wäre noch friedlicher gewesen, denn in einem Grab hätte es nicht vier wilde Augenpaare gegeben, die stets auf sie gerichtet waren und auf den kleinsten Fehler warteten …
    Abgesehen von ihr gab es also noch fünf Sklaven, die im Dunkeln und umgeben von modrigem Geruch in einem Keller, der nicht einmal genug Platz für zehn Fässer bot, warteten und den Schritten und dem Wimmern über ihnen lauschten.
    Zunächst einmal war da Miu. Alles war so schnell gegangen, dass Non’iama kaum Zeit gehabt hatte, sie sich anzusehen. Die Dunkelheit verhüllte nun ihr rotblondes Haar, aber ihre kräftige Gestalt war noch zu erkennen. Ihre Stimme verriet, dass sie nicht mehr ganz jung war, vielleicht etwa vierzig Jahre alt.
    Dann war da Afa, die junge Frau. Einige düstere Anspielungen in den kurzen Gesprächen erlaubten Non’iama den Schluss, dass Manros Afa sicher schon mehrmals auf ihrem Strohsack vergewaltigt hatte und dass diese Untaten in der jungen Sklavin dumpfen Hass erzeugt hatten, ebenso wie die bittere Überzeugung, dass der Wirt nicht
zurückkommen würde: Er würde sie krepieren lassen, in diesem Loch, in das noch nicht einmal Ratten eindringen konnten!
    Dann gab es Berus-Alm, den Mann, der die Falltür wieder geschlossen hatte. Er war hochgewachsen und kräftig und sprach nur in kurzen, knappen Sätzen. Non’iama spürte oft, wie sein Blick mit einem seltsam verbitterten Funkeln auf ihr ruhte.
    Die beiden anderen Männer waren Brüder. Der ältere war hager und wirkte alt; die anderen nannten ihn Bû, »den Alten«. Manchmal wurde er von unerklärlichen Schauern und Zuckungen geschüttelt. Er fuhr immer zusammen, wenn die Flüchtlinge über ihnen Lärm machten, wenn jemand einen Beutel oder eine Waffe fallen ließ, wenn ein Kind weinte oder eine Prügelei ausbrach. Dann stand er auf, reckte die Faust zur Decke und stieß eine Flut von Verwünschungen hervor, die dank seiner fast unhörbaren Flüsterstimme nur umso obszöner klangen.
    Der jüngere Bruder hieß Sî; auch er zitterte und zuckte, als ob ihre Mutter den beiden diese Eigenschaft schon bei ihrer Geburt mitgegeben hätte. Er war größer als Bû und hatte breitere Schultern.
    Er war derjenige, der vorschlug, Non’iama aufzuessen.
    Er tat es mit gleichgültiger Stimme, ohne jeden Funken Humor oder Spott, am zweiten Morgen. Die sechs Gefangenen wussten, dass es Morgen war, denn einige unendliche Stunden lang war die Stille über ihren Köpfen nur selten durchbrochen worden: dann und wann von Schritten, vom Verrutschen eines Gepäckstücks oder vom keuchenden Wimmern eines ausgehungerten Kindes. Non’iama stellte sich vor, wie die Familien dort oben
auf ausgebreiteten Säcken schliefen, wie die Männer mit vor Müdigkeit geröteten Augen an der Wand saßen, um jedem Feind entgegentreten zu können, der kam, um sie zu töten oder ihnen ihre armselige Habe zu rauben.
    Non’iamas Großmutter hatte, als sie - mit einem Fuß an den Mittelpfeiler der Küche in Sarsan gekettet - noch gelebt hatte, ihre Enkelin stets gescholten, wenn sie den Fehler gemacht hatte, ihr von den Bildern zu erzählen, die sie vor sich sah, sobald sie die Augen schloss. Es hatte schon immer viele solche Bilder gegeben. Wenn Non’iama geträumt hatte, sobald sie mit dem Abwasch fertig war, hatte sie sich die Bälle ausgemalt, die manchmal im dritten Stock des gegenüberliegenden Gebäudes hinter hell erleuchteten Fenstern stattfanden; sie hatte sich vorgestellt, wie der Hausherr und seine Söhne zu Pferde in der goldenen Nachmittagssonne an den Marktständen von Sarsan vorbeiritten. Als sie sich ausgemalt hatte, wie ihre Herrin geweint haben musste, als sie in ihrem Schlafzimmer dort oben ein zweites totgeborenes Kind zur Welt gebracht hatte, hatte sie mitgelitten.
    »Hör mit diesem Unfug auf, Non’iama«, hatte ihre Großmutter gesagt. »Du hast selbst genug Schwierigkeiten. Verschwende keine Zeit damit, dich um die der anderen zu kümmern.«
    Sie hatte recht gehabt und hatte immer noch recht. Non’iama hatte genug Schwierigkeiten.
    »Wir sollten sie essen«, sagte Sî, als die Geräusche
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