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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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sollte, ging dem Erzähler immer die Puste aus – seine Erinnerung schrumpfte und reichte gerade mal für ein mageres, einaktiges Theaterstück, dessen Inhalt ihm fast entschwunden zu sein schien.
    Günter Struck heiratete früh seine Erna, er hatte eine Schlosserwerkstatt in einer Markthalle in Moabit, das Ehepaar logierte in einer benachbarten Nebenstraße.
    Ja, zwei Zimmer und noch ein Kämmerchen, sagte Herr Struck.
    Es war eine gepflegte Wohnung, die seine Erna fegte und schmückte. In jedem noch so kleinen Winkel gab es Kunstblumen und Aschenbecher – die beiden rauchten im Gehen, im Liegen, im Sitzen. Erna machte alles schnell und geschickt. Tagsüber saß sie hinter der Kasse bei Edeka, abends stellte sie einen Teller mit Wurstscheiben, einen mit Käse und noch einen mit Sauergurken, Radieschen und Tomaten auf den Tisch. Erna und Günter nahmen jeweils vier Stullen zu sich, dann zwei Biere, sie rauchten und sahen dabei fern.
    Aber natürlich sind wir in den Urlaub gefahren, überall hin, sehen Sie?, zeigte Herr Struck stolz auf die Schranknische, in der sich Dutzende blauer Eierbecher in jeder nur denkbaren Ausführung (Steingut, Plastik, Porzellan, Holz, Plastik und wieder Plastik) tummelten.
    Die anderen ham Kaffeelöffel oder Untertassen gesammelt, wir wollten was Besonderes haben.
    Schön, sagte ich, obwohl es eine der charmelosesten Sammlungen war, die ich je gesehen hatte. – Wir müssten die Dinger mal entstauben.
    Günter sah fern und aß dabei Kartoffelchips. Ich wischte an den blauen Eierbechern herum und schaute gelegentlich über Günters Schultern zum bunt flimmernden Bildschirm: Ein Wald, nein, ein unüberschaubarer Dschungel ausgestreckter schwarzer Arme und darüber ein Paar strahlend weiß behandschuhter Hände, die von oben Essen in die Menge werfen. Dann: Wie ein gewaltiger Trichter saugt der Tunnel verschwitzte Love Parade-Besucher auf, die offensichtlich nicht merken, wo die Lust aufhört und der Tod lauert. Dann: Unzählige weiße krumme Rücken betender Muslime, gestützt gegen Fersen in weißen Socken. So ein Quatsch!, sagte Herr Struck immer zu den Tagesnachrichten. Sie langweilten und irritierten ihn sehr.
    Oft gingen wir nach unten und spielten Schwarzer Peter im Seniorentreffpunkt. Die Tische standen in Reihen, auf jedem lag in der Mitte eine Spitzendeckchensimulation aus Papier, und darauf stand eine Vase mit künstlichen Blumen. Herr Struck ärgerte sich bis zu den Tränen, wenn er auf dem Schwarzen Peter sitzen blieb, bemühte sich aber kaum, das Pech zu vermeiden: Er zog immer die Karte, die der Gegner ihm hinhielt.
    Dann gingen wir manchmal einkaufen. Cervelat, Jagdwurst, Kommissbrot, flüsterte Herr Struck und griff unsicher und unpräzise wie mit einem Bulldozerarm in die Regale, er verfehlte sein Ziel und fluchte.
    Zimbo
, hier lag immer
Zimbo
-Blutwurst, empörte er sich. Seine großen nassen Lippen zitterten, die Augen rollten vor Verzweiflung. Im Geschäft war er nervös, aufgeregt, ungeduldig. Das Einkaufen war der Höhepunkt des Tages. An der Kasse hielt er mir sein Portemonnaie entgegen, und ich pickte aus dem Münzhaufen die nötige Summe heraus. Dann verstauten wir die Würste in die Einkauftasche mit den Rädern und zogen die Beute in Herrn Strucks Zuhause.
    Jetzt ist das Namensschild unter der Türklingel leer. Maria steckt die toten Geranien in einen schwarzen Sack. Ich fege die Scherben der Weihnachtskugel in die Kehrschaufel. Im Flausch des braunen Bodenteppichs schimmert etwas silberner Staub. Als ich den Karton mit dem Cowboyhut aufmache, flattern winzige, hechtgraue Motten heraus.

4
    Maria geht arbeiten, und ich sitze in der
Oase der Liebe
. Meine Hände kleben an der rotweiß karierten Plastikdecke, die bis ins mikroskopische Detail die Fadenverflechtungen von Baumwollstoff nachahmt, sich aber ganz anders anfühlt: glitschig und klebrig. Es ist nicht klar, wie mein Arbeitstag heute aussehen wird, denn Herr Struck ist tot und ich bin trotzdem da. Die Chefin geht ins Büro, um zu schauen, was für mich heute zu tun ist. In der Tischmitte, vor meinen Augen, liegt ein grüner Tannenzweig, geschmückt mit einer silbernen Kugel und knallroten Beeren. Erst neulich habe ich von Marina erfahren, dass die Pflanze „Stechpalme“ heißt – die Namen der Bäume und der Tiere lernt man sonst in der Kindheit. Die immergrüne Stechpalme gedeiht gut auf Friedhöfen. Herr Struck, Günter Struck ist nicht mehr da. Und auch seine Träume sind nicht mehr da. Hat er je
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