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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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Bewegungen wie in Zeitlupe, sehr langsam: Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und lässt ihren Mann, dessen Hände arbeiten müssen, von ihrem Würstchen abbeißen. Dann wischt sie ihm das Ketchup vom Mund und küsst ihn. Während die beiden Wurstmenschen sich küssen, drehen sich die Gesichter der Söhne zu ihnen wie Blumen zur Sonne. Die Kinder schauen staunend auf diesen offenbar seltenen Augenblick, er muss ihnen wie ein Beweis dafür vorkommen, dass auch sie einer Liebe entsprungen sind.
    Die dicken weißen Klümpchen fallen auf den eben dunkelgeräumten Gehweg, auf die Köpfe der Menschen und auf ihre Schultern, und die gestressten Passanten mit ihren Tüten wirken plötzlich gutmütig wie die Heiligen Drei Könige mit ihren Gaben.
    Ich werfe den kalten Zigarettenrest weg, schiebe die steifen, geröteten Hände in die Manteltaschen, gehe ein paar Schritte und bleibe wieder stehen, von einer gewaltigen Lichtexplosion geblendet. Es sind mächtige Scheinwerfer an der Bahnhofsfassade, die jeden Abend anspringen, um Penner und Junkies abzuschrecken. In dieser Beleuchtung sehe ich plötzlich Schura einige Meter von mir entfernt stehen. Er hat ein Heft und einen Bleistift in der Hand und wirkt sehr konzentriert. Wie habe ich nur übersehen können, wie sehr mein Ex-Ehemann in seinem Habitus dem armen Franz Biberkopf ähnelt, der im Roman an exakt der gleichen Ecke mit seinem Bauchladen voller Schnürsenkel stand? Als ich Schura am Ellbogen berühre, zuckt er leicht erschrocken zusammen.
    Du? Was gibt es?
    Gehen wir ein paar Schritte weg hier? – Ich lasse ihn nicht los und ziehe leicht an seiner Jacke, denn es ist in der Tat sehr ungemütlich, in diesem grellen Licht zu stehen.
    Ich kann jetzt nicht, sagt er und malt geschäftig einen Strich ins Heft. – Ich zähle Würstchen. Wie viel einer dieser Deppen davon pro Stunde verkauft. Ich möchte so eine Firma in Sankt Petersburg aufmachen.
    Wie denn?
    Wenn du mitmachst, kann alles sehr schnell gehen: Erst kaufen wir drei Bauchläden, dann zehn, dann expandieren wir und lassen unsere
Grill Walker
durch ganz Russland laufen! – Schuras Augen leuchten, er redet schnell: Ein Würstchen pro Minute! Mal mehr, mal weniger, dreißig Stück pro Stunde, dreißig Euro also. Davon die Hälfte Reingewinn.
    Aber da muss man doch vor Ort sein!
    Ich fahre hin. Nach Sankt Petersburg.
    Für immer?
    Vielleicht. Ich will das versuchen.
    Und was sagt deine Mutter?
    Natürlich freut sie sich, dass ich zurückkehre. Verdammt! – Schuras Gesicht verzieht sich vor Wut: Der Liner in seiner Hand pflügt das durchnässte Heftpapier, und die braven Striche werden zu unförmigen Klecksen im Schulheft eines Taugenichtses. Seine Jacke ist oben aufgeknöpft, und ich sehe ein Stück Gänsehaut auf seinem bloßen Hals – den Schal hat er gestern bei uns vergessen. Seine ebenfalls bloßen Hände sind rot und kalt.
    Vielleicht
muss
ich einfach zurückfahren, sagt er plötzlich leiser und schaut weg vom Wurstmenschen, zur Seite, nach unten. Es ist der Blick eines verlorenen Sohnes, der vor Scham und Demut nicht mehr geradeaus schauen kann: Denn nur die
gescheiterten
Söhne kehren in die Elternhäuser zurück, die sie einmal verlassen haben.
    Schau mal, da ist Licht in den Fenstern, Marina ist schon zu Hause. Kommst du kurz hoch? Sie wird sich freuen. Ich würde mich auch freuen.
    Schura schaut zweifelnd zu mir, dann zu den Fenstern hinauf.
    Eigentlich habe ich keine Zeit. Aber wenn du unbedingt willst …
    Ja, ich will.
    Was ist plötzlich mit dir los?, brummt er scheinbar unwillig, dabei packt er sein Heft in die Jackentasche und folgt mir bereitwillig.
    Der Fahrstuhl kommt nicht, wir gehen langsam die Treppe hoch. Eine Stunde später sitzen wir zu dritt in der engen Küche um die große Pfanne Bratkartoffeln. Schura erzählt, dass er schon mit dem Patentbesitzer für die
Grill Walker
gesprochen hat, und dass dieser bereit sei, ihm die Rechte für Russland zu verkaufen. Es sei alles geregelt, nur das nötige Geld fehle. Da schauen die beiden mich an, ich aber schweige, und die Pause wird so gewichtig, dass der dösende Kubik seinen klobigen Kopf hebt und ebenfalls erwartungsvoll zu mir starrt.
    Ratet mal, woran ich jetzt denke, sage ich endlich, und Kubiks Augen scheinen vor Spannung beinahe herauszuspringen. Die anderen sind auch neugierig.
    Woran?
    An Goldregen.
    Schura schiebt ein speckiges Kartoffelstück zaghaft in den Mund, beißt laut in die Gabel, und sein Gesicht verzieht sich:
    Was meinst
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