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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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der Luft, der sich immer bewegen muss, um nicht herunterzufallen. Ihr hübsches Gesicht war schmal und lang, daher schienen ihre Augen etwas zu nah an der nobel geformten schnabelartigen Nase zu sitzen, was die Ähnlichkeit mit einem Vogel verstärkte. Früher nannte er sie manchmal zärtlich
Vöglein
, in der jüngeren Zeit aber ließen ihn Ingrids robuste Heiterkeit, ihre Neugier, ihre rastlose Betriebsamkeit und Gesprächigkeit immer öfter an ein Huhn denken.
    Wenn sie neben seinem Schreibtisch auftauchte, krümmte sich sein Rücken, er nahm die Hände in den Schoß, als ob er seine Eingeweide vor einem braven, scherzhaften Stoß schützen wollte. Und er blieb so sitzen, während Ingrid, die Lesebrille auf der Nase, das dicht beschriftete Blatt vor ihr Gesicht hielt und ihre Lippen im Takt der Lektüre geräuschlos bewegte:
‚Madame Butterfly‘ im Admiralspalast. Ich war ohne Karte da und stand hinter der Gardine versteckt am Eingang. Ich sollte unsichtbar sein, ein Niemand, dem der schwere Plüsch für eine kurze Dauer Kontur verpasste. Nach der Vorstellung schlich ich heraus, in eine laute Menschenmenge, die mich in die Friedrichstraße hinauszog. Die wegen der Ruinen ohnehin enge Fahrspur war durch einen kaputten russischen Lastwagen versperrt, auf dem Tausende von Schreibmaschinen ohne Deckel lagen: Ich konnte sogar die einzelnen Tasten sehen, einen Haufen Buchstaben, die kein Wort ergaben. Der Wagen stand auf drei Rädern, am vierten hantierten zwei russische Soldaten, und ihre Kameraden tummelten sich daneben und aßen Brot aus ihren schwarzen Händen: wie Gottheiten in schlechtem Schuhwerk mit ihrem liegen gebliebenen Streitwagen. Die gestauten Autos hupten, die Fahrer schimpften, die Menge um mich herum summte in verschiedenen Sprachen. Französisch, Englisch, Russisch. Ich kämpfte mich schweigend durch den lauten, furchterregenden Sprachozean. Um nichts in der Welt wollte ich meinen Mund aufmachen – meine deutschen Wörter schienen mir zum Weinen peinlich, meine erschütterte und verstümmelte Sprache lag im Haufen auf dem kaputten russischen Lastwagen ohne Rad
.
    Ulf, Liebling, mein Ratschlag: weniger Emotionen und Adjektive! Für den Leser bist du vor allem als sachlicher Augenzeuge von Interesse: Du hast zwei Diktaturen erlebt! Es ist sehr wichtig für die künftigen Generationen, zu erfahren, wie diese braunen und roten Mühlräder unsere Schicksale bestimmt haben. Die Aufarbeitung der Vergangenheit, die politischen Tatsachen sind hier angebrachter als das, was dir peinlich war, oder deine Lieben, ich weiß es nicht. – Mit einem Lappen in der Hand drehte Ingrid eine Runde durchs Zimmer und verschwand fröhlich und summend wieder in der Küche.
    Ulf legte den Stift beiseite und fuhr mit der Zärtlichkeit eines Blinden über die beschrifteten Blätter. Ingrid hatte recht, aber
er
war der Herr über sein niedergeschriebenes Leben, und ausgerechnet diese
Peinlichkeiten und Lieben
machten seine zweite Existenz aus. Vieles, was im echten Leben klein und unbedeutend schien, wurde auf dem Papier groß, die Bilder ordneten sich neu und ergaben neue Muster und Wendungen. Die ersten Strecken – Kindheit und Krieg – durchraste er in einem Atemzug. Schwieriger wurde es, als Dora die Bühne betreten sollte: Die Geschichte ihrer Liebe wucherte auf dem Papier, wurde wertvoll und schön wie die von alten Meistern gemalten Alltagsszenen. Es hieß nun, er habe sie schon als Schulmädchen mit goldenem Haarzopf und großen Hasenzähnen geliebt, und vor dem Pergamonmuseum habe er seine Geliebte bloß wiedererkannt, wie in einem französischen Schwarzweißfilm. Dann gingen sie der Spree entlang spazieren, und im darauffolgenden Jahr nahm er sie zur Frau. Sie hatten ein Dach über dem Kopf, und die Töpfe auf dem Herd waren warm und voll – was braucht man mehr, um glücklich zu sein? Er erinnerte sich an Doras schwangeren Körper, den er mit seinen Armen nicht ganz umfassen konnte. Er streichelte oft ihre geschwollenen Füße (sie hatte während der Schwangerschaft satte 16 Kilo zugenommen). Ungeduldig warteten sie auf ihr Kind, zählten die Minuten, wollten die Zeit beschleunigen, trieben das Leben an: schneller, immer bergauf, zur begehrten, noch unsichtbaren Felsspitze. Und dann ging’s aber bergab – nur bergab, und immer schneller. Und dieses Bergab schien kurz, unbedeutend, wertlos. An jenem Heiligen Abend, als Dora und er aus Potsdam zurückkehrten, im Dunkeln tappten und doch nicht zueinander fanden,
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