Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
Vom Netzwerk:
Spießigkeit – waren wir tatsächlich so lächerlich oder wirken wir erst nachträglich so schäbig wie unsere damaligen Kleider, Möbel, unsere Wünsche und Hoffnungen? Eine Tribüne, auf der nur herrenlose Füße und Waden zu sehen sind. Fähnchen in Fenstern, Gitarren, da und dort wird geküsst.
Weltspiele der Jugend. Sommer 1973. Ausschuss
steht auf der Rückseite der Bilder. Die verzauberte, zarte Kehrseite des Lebens. Besonders schön waren die Bilder, die Ulf und sein Sohn mit der Camera Obscura gemacht hatten: unerwartete Färbungen, unklare Gesichtsausdrücke, verschwommene Umrisse, in die man ein anderes Leben hineinträumen konnte. Ein anderes, ins Reine geschriebenes Leben.
    Ulf räumte seinen Schreibtisch auf und schob ihn in das Wohnzimmer. Ein Stapel Papiere rechts in der Ecke. Der handgroße, schlanke Don Quichotte aus Gusseisen, den ihm Marius aus Russland mitgebracht hatte. Eine Handvoll vergilbter Fotos. Ein weißes Blatt. Und dazu ein Bleistift – der Schlüssel zum Notausgang in ein anderes Leben. Ulf schrieb schnell und leicht, erlaubte es sich, Daten und Namen wegzulassen und mehrere Stationen zu überspringen – so wie er einst zu Dora gesprochen hatte, als sie sich noch nahegestanden waren.
    Ulf, du kannst nicht stundenlang so am Schreibtisch sitzen! Es ist nicht gesund, schüttelte Ingrid den Kopf, wenn sie von ihren langen Reisen zurückkehrte.
    Ich mag das Fliegen nicht.
    Wenn du nicht fliegen willst, können wir wandern. Stattdessen sitzt du hier Tage und Nächte. – Sie streichelte ihn im Vorübergehen an der Schulter. – Was schreibst du da eigentlich?
    Er schrieb über den ersten Schultag, wie sie sich gemeinsam um den Buchstaben
i
bemühten und dabei im Chor sangen:
Rauf, runter, rauf – und ein Pünktchen drauf!
Über seinen ersten Kino-Besuch und wie er sich auf dem Rückweg in eine enge Gasse des Scheunenviertels verirrte, wo Vögel verkauft wurden. Schmutzige Käfige, dunkelhändige Händler in dunklen Mänteln. In der Ecke eines langen Käfigs tummelten sich graue Tauben um einen Sonderling, der nicht grau, sondern schwarz-weiß gefiedert war. Er lag auf dem Boden, sein Hals war federlos und feuerrot, und die Mittauben pickten mit ihren spitzen Schnäbeln eilig in die wunde Stelle. Sie drängelten, sie zitterten vor Eifer. Sie wirkten nicht aufgebracht oder wütend, sie wirkten fleißig, sachlich und konzentriert. Gelegentlich schauten sie von ihrer Arbeit zu Ulf hinunter. Als Ulf endlich nach Hause fand, öffnete niemand auf sein leises Klopfen, und er warf sich in Panik mehrmals gegen die Tür. Als die Mutter endlich öffnete, fiel er ihr in Arme und legte seinen Kopf in ihren Schoß.
Hingerichtet, hingerichtet
, flüsterten die Eltern, die am runden Tisch unter der tief hängenden Lampe saßen. Woher wissen sie von der hingerichteten Taube, ich habe ihnen doch gar nichts erzählt, dachte er beim Einschlafen, während sich die Angst in ihm in eine fiebrige Influenza verwandelte.
    Es war ein Kranksein, das sich entweder im Tod oder in einem Wachstumsschub auflösen würde. Schmerzender Körper – Auszeit für die ermüdete Seele – ich musste gar nicht mehr an die Taube denken, an die Angst der Eltern vor den Schritten im Treppenhaus, an Mutters Tränen und Vaters lange Reisen. Die große Welt schrumpfte zusammen und wurde hell, warm und nah, wie der Nimbus um meine Bettlampe. Gelegentlich zeigten sich Mutters Hände in dem lichten Kreis, oder es huschten flüchtige Schatten an der Wand – ansonsten war ich ganz allein auf diesem kleinen, lichten Planeten. Als ich von dieser Reise zurückkehrte, war ich nicht um diese zehn Tage, sondern um ein ganzes Jahr älter geworden
.
    Das schrieb Ulf, und die hauchdünnen Graphitfäden waren zu einem mühelosen Muster verschlungen, gleichmäßig wie aus der Hand einer geschickten Strickerin. Der Stapel beschrifteter Seiten wuchs unaufhaltsam, und er schämte sich dessen, vor allem vor Ingrid, die ihn scherzend
meinen lieben Graphomanen
nannte.
    Zu seinem fünfundfünfzigsten Geburtstag schenkte sie ihm das ägyptische Figürchen eines sitzenden Pavians. Der Gott des Schreibens, dir zur Hilfe. Ein teures Replikat, Bronze, sagte sie und stellte es vor ihm auf den Schreibtisch. Der Pavian gefiel Ulf nicht, er hätte ihn gleich weggepackt, wären nicht Ingrids Blicke gewesen, mit denen sie ihr Geschenk bei jedem Vorbeigehen würdigte. Und sie stolzierte recht oft vorbei, weil sie ein tätiger, energischer Mensch war, wie ein Vogel in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher