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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Autoren: Jörg S. Gustmann
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PROLOG
    Jerusalem, im Jahre 33
    Es war eine dieser Nächte, in denen man sich auf seinem Lager hin und her wälzt, das Laken, das den Körper bedeckt, zur Seite schiebt und kein Auge zumacht. Die Grillen zirpten in nervtötender Intensität, als gälte es, den rastlosesten Ruhestörer zu ermitteln.
    Longinus vernahm den gleichmäßigen Atem seiner jungen Frau und blickte in ihre Richtung. Sie schlief auf der Seite liegend, ihm zugewandt, und er bewunderte ihre unglaubliche Schönheit. Welch ein Glück hatte er mit dieser Gefährtin gehabt, die ihm drei gesunde, kräftige Söhne geschenkt hatte. Ihr langes, dunkles Haar bedeckte ihre Wange wie ein zarter Schleier, und die Haut ihrer Stirn glänzte im Mondlicht.
    Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, erhob sich Longinus von seinem Lager und verließ das Schlafgemach. Die Gedanken an den vor ihm liegenden Tag trieben ihn um, und er gab den Versuch auf, noch einige Stunden Ruhe zu finden. Er betrat das Atrium, atmete die feucht-warme Luft ein und ging zu dem Raum, in dem er seine Rüstung abzulegen pflegte; die Rüstung eines angesehenen, mittlerweile wohlhabenden römischen Hauptmanns.
    Der nächste Morgen würde kein gewöhnlicher Morgen sein. Die Kreuzigung dreier Verbrecher stand an; genaugenommen zweier Räuber und eines Mannes, den man des aufrührerischen Verrates schuldig gesprochen hatte. Er, als Hauptmann hatte die Aufgabe, den Vollzug der Hinrichtung mit den ihm unterstellten Legionären zu sichern, den aufständischen Pöbel in die Schranken zu weisen und den einen oder anderen jüdischen Rebellen mit seiner Lanze zurückzudrängen.
    Bedächtig nahm Longinus den Wurfspieß zur Hand, polierte mit einem feinen Leinentuch Schaft und Spitze und seufzte deutlich hörbar. Er war des vielen Tötens müde und hoffte, diese Lanze, die ihn schon viele Jahre begleitet hatte, an diesem Tag nicht einsetzen zu müssen.
    Zur selben Zeit erhob sich, einen Steinwurf von Longinus Haus entfernt, ein Mann mittleren Alters mühsam vom steinigen Boden und freute sich darüber, dass er körperlich und geistig unversehrt zu sein schien. Er konnte kaum fassen, was ihm gelungen war. Alles war perfekt verlaufen, entgegen allen Befürchtungen seitens der kleingeistigen Gelehrten. Es hatte tatsächlich geklappt! Noch nie zuvor war ein Mensch dieses Wagnis eingegangen. Doch er, ausgerechnet er, hatte es überlebt.
    Der Reisende blickte an sich herab, betastete glücklich sein Gesicht und fühlte zugleich die Mattigkeit in seinen Beinen. Das hier, das war offensichtlich sein Schicksal – zweifellos, sein Karma, oder wie auch immer man es nennen wollte. Es war ihm egal, wie man es nannte, solange es ihn seinem Ziel näher brachte, seinem Traum, seiner Bestimmung. Obwohl er gerade erst angekommen war, richtete er nun all seine Sinne auf die neue Umgebung, in der er sich befand, und versuchte, sich zu orientieren.
    Kein Geräusch war zu hören, außer einem unermüdlichen Zirpen der Grillen. Der Fremde kniff die Augen zusammen, blickte in die Ferne auf die gegenüberliegende Seite des Tals und entdeckte dort schwache Lichter. Keine Laute drangen aus dieser Richtung zu ihm herüber. Dennoch vermutete er, dass dies eine bewohnte Stadt war, und hoffte, sein angestrebtes Ziel – Jerusalem – tatsächlich erreicht zu haben.
    Zaghaft und stolpernd ging er vorwärts, balancierte, um nicht zu fallen, denn der Boden war steinig und uneben. Der Reisende war es nicht gewohnt, barfuß zu laufen, und hätte alles dafür gegeben, wenn er wenigstens seine teuren Schuhe hätte mitnehmen dürfen. Der weißhäutige, untersetzte Mann bewegte sich Schritt für Schritt voran. Mit den Füßen tastete er den unberechenbaren Untergrund ab, und, da ihm die hohen Einlagen seiner eigens für ihn angefertigten Schuhe fehlten, wurde er sich erneut der Tatsache bewusst, dass sein rechtes Bein beträchtliche Zentimeter zu kurz und sein Fuß leicht verkrüppelt war.
    Er hasste diese angeborene Behinderung. Nicht genug, dass er mit spärlichem Haarwuchs und einer gedrungenen Statur gestraft war. Ein zu kurzes Bein mit einem verkrüppelten Fuß ließ sich nicht so leicht kaschieren wie ein unförmiger Bauch durch einen eleganten Anzug. Sein Blick fiel auf sein linkes Handgelenk. Dort, wo er seine Rolex zu tragen pflegte, prangte nur blasse, von der Sonne vernachlässigte Haut.
    Eine Stunde später war der Reisende noch nicht sehr weit gekommen. Sein Weg führte ihn von einem Hügel herab, und er stach sich an Dornen und
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