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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Autoren: Jörg S. Gustmann
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Israelit hörte voller Erstaunen ein irrsinniges Gackern durch die Gasse hallen. Der Plan des Fremden stand fest, trotz aller Bedenken. Die Vorsehung hatte seine Reise gelingen lassen, und er würde in den Besitz eines der mächtigsten Instrumente gelangen, das die Menschheit je besessen hatte. Beseelt von seiner neuen Vision erhob er sich – sein Alter Lügen strafend – flink von seinem Platz und ging der aufgehenden Sonne entgegen.
    Verlockende Düfte kündigten den Tag an, und in gewohnter Konstanz pulsierte das Leben Jerusalems. Dieser Morgen würde für die Stadt kein gewöhnlicher Morgen sein. Heute würde die Kreuzigung dreier Männer auf dem Berg Golgatha stattfinden, und er würde nicht nur Zeuge sein, sondern aktiver Teilnehmer!
    Der Reisende eilte die Gassen entlang und betrachtete die verschiedenen Menschen. Es wimmelte von Römern, die Jerusalem besetzt hielten und ihre althergebrachten Götter anbeteten. Es gab strenggläubige Schriftgelehrte und Pharisäer, liberale Juden und griechische Heiden. Ein wahres Wirrwarr der Religionen. Er bemerkte, dass bereits einige Verkaufsstände aufgebaut worden waren, an denen viele Dinge angeboten wurden. Ein typisch orientalisches Treiben begann, und viele Leute nahmen sich eilig Backwaren von einem Holzbrett, warfen das Geld in einen Kasten und liefen mit dem Brot in ihrer Hand die Straße hinunter.
    Da bemerkte der Fremde seinen Hunger, streifte dicht an einem Stand vorbei und stahl, scheinbar unbemerkt, etwas, das aussah wie eine Brötchen. Es roch um einiges besser als alle Brötchen, die er kannte. Gierig biss er davon ab, kaute kaum, sondern schluckte den Teig hastig hinunter, als ihn unvermittelt jemand von hinten an der Schulter packte und ansprach. Obwohl er wusste, welche Sprachen hier gesprochen wurden, erschrak er. Wie eigentümlich dieses Latein klang, dachte er.
    »Was tust du hier? Du hast Brot gestohlen, du Lump! Du glaubst, es hätte dich niemand beobachtet, aber da täuscht du dich!« Der Mann, der die Uniform eines römischen Legionärs trug, sprach langsam und akzentuiert, und da der übel riechende Dieb neben vier weiteren Sprachen auch Italienisch beherrschte, versuchte er, auf die eindringlichen Worte des Soldaten besänftigend zu reagieren. Er wusste nicht, wie Diebstahl in Israel geahndet wurde, aber günstig war es für ihn gewiss nicht, erwischt worden zu sein. Darum überlegte er sich seine Worte gut. Eine gute Lüge würde ihm weiterhelfen. Mit fester Stimme sagte er: »Ich habe das Brot nicht gestohlen. Ich habe den Verkäufer darum gebeten. Er hat es mir geschenkt.«
    Der mit einem schmutzigen Gewand Bekleidete hatte seine Entschuldigung derart stümperhaft und unverständlich hervorgebracht, dass der breitschultrige Soldat verärgert die Augen verdrehte. Wieder hatte er es mit einem Zugereisten zu tun oder zumindest mit jemandem, der sich das martialische Schauspiel einer Kreuzigung nicht entgehen lassen wollte und dafür einen weiten Weg hinter sich gebracht hatte. Vielleicht hielt er ihn für einen armen Bettler, der angesichts der Kreuzigung vom allgemeinen Mitleid profitieren wollte und sich reiche Gaben erhoffte. Jedenfalls war klar, dass dieser Fremde der Sprache des Legionärs nicht annähernd mächtig war. Dieses Land war in dessen Augen ohnehin kaum mehr zu durchschauen – eine unübersichtliche Menge an Kulturen und Gebräuchen, Stämmen und Völkern, ein Land, in dem die Einheimischen schon bald zur Minderheit zählen würden.
    Der Legionär rümpfte angewidert die Nase und ließ von dem vermeintlichen Dieb ab. Ein anderer Soldat rief ihn zu sich, und so ließ er den Fremden ziehen, nicht ohne ihm mit einem bösen Blick nachzuschauen.
    Über den glimpflichen Ausgang dieser Begegnung erleichtert, versuchte der Reisende, sich abseits der Römer zu halten, und mischte sich in einen Strom von Menschen, die ähnlich ärmlich gekleidet waren wie er und die, wie er feststellte, genauso übel rochen. Sie rissen ihn mit sich, während sie palaverten und gestikulierten, ohne dabei zu lachen. Sprach ihn jemand von der Seite an, verhielt er sich, als sei er stumm und brachte ein Raunen oder Grunzen hervor. Er war einer der wenigen, die keine Sandalen an den Füßen trugen, da er nirgendwo welche hatte stehlen können. Letztlich war das gleichgültig: Niemand störte sich an ihm, alle strebten dem gleichen Ziel entgegen, das ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm: dem Ort, an dem das Alte ein Ende, und zugleich die Welt einen neuen
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