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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Autoren: Jörg S. Gustmann
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ritzte sich die Haut an Beinen und Armen auf, begleitet von seinem stummen Fluchen. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, um – ohne sich auf die Balance konzentrieren zu müssen – Ausschau zu halten, und nach Geräuschen zu lauschen, die ihm weiterhelfen konnten. Er stieg noch eine Weile das unebene Gelände hinab und befand sich in unmittelbarer Nähe jener Stadt, die er von ferne gesehen hatte. Eine Stadt, mit gigantischen Mauern und einem großen Tor.
    Nun wurde es heikel für den Fremden. Nervös blickte er sich um und hob, einem spontanen Gedanken folgend, Lehm vom Straßenrand auf. Eilig rieb er sich das Gesicht und seinen, noch nach teurem Parfüm duftenden Körper, damit ein. Er brachte seine spärlichen, korrekt nach hinten gekämmten Haare in Unordnung. Man wird denken, ich sei überfallen worden, und ich werde mich entsprechend benehmen: Ein verzweifelter und zerschundener Bettler mit verdrehtem Fuß und mit Stummheit geschlagen. Niemand, dem man etwas antun oder den man an seinem Fortkommen hindern müsste.
    Er durchquerte das imposante Stadttor, in dessen Mitte er einen Wächter sitzen sah. Dessen Kopf war vornüber auf die Brust gesunken und die gleichmäßige, schnarchende Atmung signalisierte einen gesunden Schlaf. Zügig und lautlos schlich der Fremde an ihm vorbei und erreichte die Stadt seiner Träume: Jerusalem. Er erkannte sofort die alles überragende Kulisse des jüdischen Tempels und wähnte sich seinem Ziel ein kleines Stück näher – bis ihn ein dringlicher Gedanke einholte: landestypische Kleidung! Woher bekomme ich etwas zum Anziehen, mit dem ich nicht auffalle?
    Fieberhaft blickte er sich nach allen Seiten um. Es waren schon einige Leute auf den Beinen – oder waren es noch, als sie betrunken die Prostituierten verließen. Lautlos huschte der Reisende durch zahlreiche Gassen, bis ihm ein über einer Mauer hängendes Gewand auffiel. Er lauschte, ob aus dem Innern des Gebäudes Geräusche zu vernehmen waren, doch völlige Stille hüllte ihn ein. Schnellt schaute er sich nach allen Seiten um, griff mit behänder Verschlagenheit nach dem zum Lüften ausgebreiteten Gewand und nahm es, schon im Weglaufen, an sich. In einer kleinen Seitengasse betrachtete er sein »Fundstück«. Ein unangenehmer Geruch drang ihm in die Nase und mit aufkeimendem Ekel streifte er sich das mit Urin und anderen männlichen Körperflüssigkeiten getränkte Kleidungsstück über. Dennoch war er erleichtert, denn all seine Anstrengungen ordneten sich jetzt seinem höheren Ziel unter. Und das erfüllte seine Seele seit seiner Ankunft mit einer diabolischen Vorfreude.
    Offensichtlich hatte sein lehmiger Einfall eine perfekte Tarnung bewirkt, denn in der Folgezeit hatte kein Mensch das geringste Interesse an ihm. Seine vormals gepflegten Fingernägel wiesen nun denselben Dreck darunter auf, wie die der Einheimischen. Sein dekadenter Körper gab den schlammigen Duft israelischer Erde wieder, und als er an sich hinunter blickte, bemerkte er zu seiner Zufriedenheit, dass ihn nichts mehr als einen Mann aus einer anderen Welt auswies. In der Tat würde ihn jedermann für einen bemitleidenswerten Landstreicher halten.
    »Habe ich dich aufgeweckt?« Longinus wandte sich zu seiner Frau um, als diese in der Tür erschien und sich die verschlafenen Augen rieb.
    »Aber nein. Es ist diese Hitze, die mich nicht schlafen lässt«, log er.
    Zärtlich strich sie Longinus über das ergraute lockige Haar und erahnte seine Gedanken ohne erklärende Worte. Ihr war die Veränderung an ihrem Mann vor einiger Zeit aufgefallen: seine gedankenschwere Schweigsamkeit, der Verlust seines Lachens und die Sehnsucht nach Frieden.
    »Meinst du, ich weiß nicht, was dich beschäftigt?«, sagte sie und hörte nicht auf, über seinen Kopf zu streichen. »Es ist dieser Mann, der gekreuzigt werden soll – der Nazarener, nicht wahr?«
    Longinus seufzte erneut und sah sie an. Er nickte, während er die Spitze seiner Lanze polierte. Nie zuvor hatte ein Rabbi so viele Fragen in ihm aufgeworfen wie dieser Mann, der in wenigen Stunden sein Leben würde lassen müssen.
    »Ich werde meine Pflicht tun«, sagte er und straffte seinen von vielen Kämpfen narbigen Rücken.
    »Du wirst tun, was du tun musst. Wie es die Götter für dich vorhergesehen haben.« Longinus lachte höhnisch auf. Sein Blick fiel auf das Lararium, den Familienaltar für die Schutzgötter. »Welche Götter?«, fragte er mit unangemessen lauter Stimme und seine verengten dunklen Augen
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