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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland
Autoren: Jan Guillou
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    Das einzige, was den Toten von anderen Leichen unterschied, war seine Fähigkeit, immer noch andere Menschen zu töten. Im übrigen schien er eine gewöhnliche Wasserleiche zu sein.
    Die häufigste Todesursache am Enaresee ist Ertrinken in Verbindung mit Alkohol. Das große Seensystem an der nordfinnischen Grenze zu Rußland ist ein veritables Anglerparadies, und besonders zur Sommerzeit strömen Angelbegeisterte aus ganz Finnland hier oben zusammen, um das gewaltige Stück unberührter Natur zu genießen. In tragisch vielen Fällen geht dies mit einer feuchtfröhlichen Freizeitbeschäftigung einher, die in seeuntüchtigen Booten tunlichst vermieden werden sollte.
    Jedoch war kein Mann entsprechenden Alters als vermißt gemeldet worden, so daß die Polizei in der nächstgelegenen Stadt Ivalo kaum mehr zu tun brauchte, als die Leiche in einem Müllsack zu verstauen, der wegen des Geruchs sorgfältig mit Klebeband verschlossen wurde. Anschließend besorgte das örtliche Bestattungsinstitut gegen feste Gebühr den Transport nach Rovaniemi.
    Im Krankenhaus von Rovaniemi wurde die Leiche bis zum Besuch des Gerichtsmediziners, der meist an einem Sonnabend in der Stadt war, in ein Kühlfach gelegt.
    Die gerichtsmedizinische Station befindet sich weiter südlich in Uleåborg, und Professor Jorma Lehtinen, der auf seiner gewohnten Runde über Kemi am folgenden Sonnabend in Rovaniemi ankam, erwartete keine besonderen Schwierigkeiten. Er würde nur die Todesursache feststellen und Material für die Identifizierung sichern.
    Schon eine erste Inaugenscheinnahme ergab einige nicht ganz unerwartete Hinweise. Die Schwellung der Leiche und der Verwesungsgrad deuteten angesichts der Jahreszeit darauf hin, daß die Leiche einige Monate alt sein konnte.
    Die Haut war stellenweise noch vorhanden. Die Zerstörung durch Tiere wies keinen ungewöhnlichen Umfang auf, abgesehen vielleicht von der Tatsache, daß größere Hautpartien an Brust und Bauch von jedem Befall frei waren.
    Der Tote war ein Mann von dreißig bis vierzig Jahren mit normalem Körperbau und normaler Muskulatur gewesen. Da Lippen und Wangenfleisch von Fischen und Krebstieren abgefressen worden waren, ließ sich schnell erkennen, was der Pathologe schon vermutet hatte, da in Finnland keine männliche Person als vermißt gemeldet war: Die Zahnplomben waren typisch russisch.
    Die Lungen waren unelastisch, und die Atemwege enthielten Wasser. Damit stand fest, daß Ertrinken die direkte Todesursache war; die chemischen Analysen von Blut und Urin würden lange Zeit später erweisen, daß der Mann zum Zeitpunkt seines Todes wider Erwarten nüchtern gewesen war.
    Die Tatsache, daß bestimmte Hautpartien an Brust und Bauch von Fischen und anderen Besuchern offenbar verschmäht worden waren, weckte schon bald das Interesse des Obduzenten. Dort fanden sich Spuren von möglichen Verätzungen, worauf für eine spätere toxikologische Analyse Präparate entnommen wurden.
    Etwa in diesem Stadium der Untersuchung spürten Professor Lehtinen und sein ortsansässiger Mitarbeiter, den er den »Präparator« nannte, gleichzeitig zunehmende Übelkeit. Das kam beiden sehr merkwürdig vor, und sie begannen laut darüber nachzudenken, ob sie tatsächlich gleichzeitig und an verschiedenen Orten verdorbene Lebensmittel zu sich genommen haben konnten. Keiner der beiden wäre je auf den Gedanken gekommen, die Übelkeit mit der einfachsten Tatsache in Verbindung zu bringen, daß sie hier in den verwesten Überresten eines Menschen herumschnitten. Das war kaum ein Grund, Übelkeit zu empfinden, und schon gar nicht gleichzeitig. Da die Übelkeit sich schnell verschlimmerte, mußten sie das recht bald als Warnsignal auffassen. Ihre Körper schlugen Alarm. Aber wovor warnte ihr biologisches Alarmsystem?
    Eine plötzliche Eingebung brachte Professor Jorma Lehtinen dazu, die Leiche schnell zu verpacken, ohne die Arbeit zu Ende zu bringen, und sie in eins der Kühlfächer zurückzubefördern. Anschließend sanierte er in aller Hast den rostfreien Arbeitstisch. Danach verließen die beiden Obduzenten den Raum und baten den diensthabenden Hausmeister, den Obduktionssaal abzuschließen und zu versiegeln.
    Die Expertise, die möglicherweise ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigen würde, war an diesem Sonnabend nur noch schwer zu erhalten. Die Männer kamen erst am Sonntagnachmittag und brauchten im Obduktionssaal nur ihre Meßinstrumente einzuschalten, um schnell bestätigen zu können, was folglich die
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