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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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Sparta, der einen gestohlenen Fuchs unter seinem Kittel versteckt hielt, und der noch schwieg, als das Tier ihm den Bauch mit Krallen und Zähnen zerfleischte.
    Weißt du noch, wie schön wir es einst miteinander hatten? Damals, als wir zu dritt – Hand in Hand, du in der Mitte, in die Stadt hinausgingen, weißt du es noch?, wollte Ulf am Flughafen zu Marius noch sagen, und hat es dann nicht getan, weil dieser nicht allein kam. Es waren noch einige junge Menschen dabei, bei Marius eingehakt stand eine junge Frau, die mit starkem Akzent, aber fließend Deutsch sprach und deren Name sich Ulf in diesem Gedränge nicht gemerkt hat. Sie redeten über das Wetter, über den Flug, über die Post und darüber, wie Marius seinen Geburtstag in Karatschi feiern soll.
    An dieser Stelle fiel die Frau mit dem Akzent ein und sagte, dass Marius mit seinen neunundzwanzig Jahren am Ende eines ersten Saturn-Zyklus sei, und dass es eine sehr günstige Zeit für den prüfenden Rückblick und einen Neuanfang wäre, für eine blendende Karriere hinter den sieben Bergen. Alle waren heiter und unbekümmert, umschwärmten Marius, schlugen ihm auf die Schultern, während Ulf wie ein Knappe beklommen abseits stand und der gesprächigen Frau zuhörte.
    In den ersten drei Wochen, die Marius in London verbrachte, rief er öfter kurz bei Ulf an. Danach flog er nach Karatschi, in drei Monaten kamen in Berlin drei Postkarten von ihm an: zwei aus Usbekistan und die letzte aus Pakistan. Dann rief er plötzlich an und sagte, es sei sein letzter Tag. An dieser Stelle wurde die Verbindung kurz unterbrochen.
    Was redest du da?, schrie Ulf in den Hörer, als sie wieder verbunden waren.
    Mein letzter Tag in Islamabad! Morgen reisen wir ab und werden in Afghanistan unterwegs sein.
    Warum denn Afghanistan?
    Es ist nicht gefährlich, glaub mir! Nach der Rückkehr kriege ich einen langen Urlaub und komme nach Berlin. Hast du das Paket zu deinem Geburtstag bekommen?
    Nein. Ein Buch?
    Früher hatten sie sich immer mit Büchern beschenkt, in den letzten Jahren aber kam Marius immer mit einer Flasche teureren roten Weines vorbei, obwohl Ulf Rotwein nie besonders mochte. Dann standen die Flaschen lange beleidigt und stumm im Regal, bis Ingrid sie weiterschenkte. Ein Buch wäre etwas anderes, ein Buch wäre wie eine Einladung zu einem Gespräch.
    Fast ein Buch. Wirst du sehen.
    Ulf schaute täglich in den Briefkasten, aber erst nach einer Woche fand er da zwei Abholscheine für jeweils eine Zusendung, die er persönlich abholen sollte. Es war aber kein Päckchen, sondern es waren zwei Umschläge, die er gleich vor dem Postamt öffnete. In einem Brief stand, dass er im Auswärtigen Amt zu einem Gespräch bei Herrn Harke eingeladen sei, und dieser werde ihm, Ulf Seitz, die Umstände des tragischen Vorfalls schildern, der seinem Sohn Marius Seitz zugestoßen ist. Im anderen Kuvert lag ein langes Schreiben. Hunderte Wörter in unverständlicher englischer Sprache, die Ulf nicht verstehen konnte oder wollte:
On March 26. 1995 our representative Marius Seitz was abducted in northern Kabul and his whereabouts remained unknown
. – Das alles sollte so viel wie
gekidnappt und vermisst
heißen.
    Als Ulf nach Hause kam, klingelte das Telefon. Kaum legte er den Hörer auf, klingelte es wieder. Dann klingelte es an der Tür, und er bekam noch ein Papier in die Hand gedrückt – alles um ihn herum drehte sich so schnell, als ob er in einen gewaltigen Wassersog geraten wäre, der ihn mal dahin und mal dorthin schleuderte und ihn immer engere Kreise drehen ließ.
    Irgendwann traf mit großer Verspätung auch das von Marius beschriftete Päckchen ein. Mit tauben Fingern holte Ulf ein dickes Buch daraus und schüttelte noch eine Weile den Umschlag – es war aber sonst nichts drinnen.
    Das Buch hatte leere Seiten, sein Einband ließ sich mit einem aufwendig gestalteten Häkchen verschließen. Der zartbeige Ledereinband war mit feinem Blinddruck verziert, der auf den ersten Blick wie ein abstraktes orientalisches Ornament aussah. Schaute man genauer hin, verwandelte es sich in ein märchenhaftes Miniatur-Universum: Auf welligen horizontalen Bögen drängten sich Hügelstädte, umsäumt von krausen Pflanzen und Gefieder mit langen Schweifen, mit Menschen und anderen Säugetieren: Mann und Frau mit den Gesichtern zueinander (er reicht ihr eine Blume), gesattelte Elefanten, eine Kuh mit einem Kalb unter dem Euter, ein Jäger und ein Tiger bewegen sich aufeinander zu, zwei Huftiere im
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