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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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gesagt haben, als sie im Krankenhaus ganz zum Schluss noch einmal zu sich kam:
Stört mich nicht, ich sterbe
.
    Als er nach der Beerdigung wieder zu Hause war, wunderte er sich, wie viele Dinge es in der Wohnung gab, die ihn an Dora erinnerten. Noch vor ein paar Tagen waren sie still und unsichtbar, und jetzt fingen sie über die Nacht an, ihn laut anzusprechen: Ich kannte Dora! Ich auch!
    Als Ulf und Ingrid bald nach Doras Beerdigung den Korridor renovierten, beschlossen sie, den Karton mit Doras Make-up zu entsorgen, der im Zwischenstockregal im Korridor stand. Dabei glitt Ingrid ein Flakon aus der Hand und fiel zu Boden. Der Glasstöpsel sprang heraus, und das abgeschabte Parkett saugte die Flüssigkeit im Nu ein.
Poison
, damals ein eher rares, teures Parfüm, dessen Aroma Ulf nicht mochte. Lange rieb er mit einem feuchten Lappen an dem Fleck, dann versuchte er es mit Chlor, aber es blieb ein leichter Geruch im Zimmer hängen – unklar, vage, beunruhigend. Auch Marius fiel er auf, als er einige Tagen später bei Ulf war.
    Das Parfüm ist zu Boden gestürzt, erklärte Ulf.
    Und die Schuhe und Kleider haben Selbstmord begangen, spottete Marius und schaute sich das Zimmer genau an.
    Ich habe noch
vor
der Beerdigung vieles hier aufgeräumt. Und ihre Sachen sind alle da, im Schrank, schau mal. – Ulf redete schnell, dabei machte er andauernd die Schranktür auf und zu und versuchte, Marius nicht in die Augen zu schauen, so, als ob er tatsächlich ein Übeltäter wäre. – Meinst du, dass dieser Verlust für mich nicht schwer ist? Schließlich … – an dieser Stelle kam Ingrid aus der Küche, wo aus dem Radiogerät Beethovens ‚Ode an die Freude‘ donnerte.
    Wir haben heute Wiener Schnitzel! Bleibst du?
    Nein, danke. Ich mag kein Schweinefleisch, sagte Marius.
    Es ist aber Hühnerbrustfilet.
    Dann hasse ich eben Wiener Schnitzel vom Hühnerbrustfilet. Und ich muss sowieso gehen.
    Marius kam selten bei Ulf vorbei, er setzte sich meist kurz an den großen Tisch im Wohnzimmer und war immer in Eile, immer ungeduldig, in Ingrids Anwesenheit unerträglich widerborstig. Sie plauderten über die umbenannten Straßen, über die neuen U-Bahn-Linien, über Nelson Mandela, Boris Jelzin und den Putschversuch in Moskau – über alles, aber nicht über ihre Beziehung, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft.
    Ulf machte sich große Sorgen um die Zukunft seines Sohnes, seine eigene dagegen beschäftigte ihn kaum. Mit allen seinen Kräften versuchte er, die zähe Gegenwart zu bewältigen. Er gab Schülernachhilfe bei einer sozialen Einrichtung – das nahm viele Nachmittagsstunden in Beschlag, die sonst trist verlaufen wären. Dann räumte er den Keller auf und strich ihn weiß. Dann veranstaltete er ein großes Purgatorium in den Schränken und brachte zwei Dutzend Hosen zu
Humana
. Dann ging er an die Bücher. Als Erstes stellte er sie strikt alphabetisch in den Regalen auf, wie in einer Bibliothek: Aragon, Augustinus, Babel, Baudelaire. Er nahm jedes Buch einzeln heraus und blieb auf der Leiter oft stundenlang wie versteinert sitzen.
    Brecht, Camus, Dante:
Auf halbem Weg des Menschenlebens fand ich mich in einen finstern Wald verschlagen
. Viele Bücher standen seit Jahren unberührt, und wenn Ulf sie jetzt zuklappte, spuckten sie kleine märchenhafte Staubwolken aus. Döblin, Ibsen, Johnson, Hugo, Kafka, Kavafis. Zauber des Lesens. Ausflüge in die Haut des anderen. Als er vor fünfzig Jahren ‚Anna Karenina‘ las, war er noch Wronskij, und jetzt war er der schroffe, beleidigte Karenin. Und Anna blieb Anna, in ihrem Recht auf Liebe. Wie auch Madame Bovary und Effi Briest, denen Ulfs Mitleid galt. All diesen Frauen, aber nicht
seiner
.
    Die Fotoalben rührte er nicht an, blieb aber sehr lange vor einer verstaubten Kiste sitzen, in der ein Haufen nicht gelungener Bilder lag, die nicht in die Alben gepasst hatten. Zu hell, zu dunkel, schief, unscharf – diese Missgeburten verzauberten Ulf mit ihrer Unvollkommenheit, Zufälligkeit, Mehrdeutigkeit. Durch Sonne geblendete, gesichtslose Menschen im hellen Schein. Und hier ein scharfes, aber schiefes Bild: das goldene Mäuschen zu Füßen der bronzenen Gertraude, wie ein Eichhörnchen posierend. Spürt das Tier die fatale Nähe seiner Verfolgerin nicht, die anrückende Vertreibung oder den drohenden Tod? Wer hat das Foto geschossen, wann? Verwackelte und trübe Stadtansichten, geknipst von oben, aus der Kugel des Fernsehturms. Unsere hoch sitzenden Hosen, grelle Farben der Hemden,
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