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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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Holzdielen der Terrasse waren samtig wie die Haut eines Säugers, und sie wärmten die kalten Fußsohlen. Wenn die Sonne meiner Kindheit hoch stand, rochen die staubigen Haare nach Spatzen, und die junge Indianerhaut schimmerte mit leisem Goldflaum im Gegenlicht, als ich, erstarrte Wachhabende, meine Hand an den Pony warf:
Die Pioniergruppe ‚Richard Sorge‘ ist zum Morgenappell bereit! Unsere Losung ist: ‚Nicht schwelen! Brennen! Leuchten!‘
    Damals wollte ich, dass das Leben so schnell wie möglich passiert. Und hier, im verschwitzten Morgenspiegel, komme ich mir wie eine alte Tante vor, mit Rinnen an den Schultern, die mir Hunderte BH-Träger in die Haut geschnitten haben. Noch gestern hieß es, es liegt alles vor mir und alles ist möglich, und über die Nacht stehen mir keine Wunder und Überraschungen mehr bevor. Ich bin ausgewachsen, fertig gestellt. Ich werde keine Stewardess mehr, keine Professorin, keine Diva. Diese Optionen stehen aber Marina, meiner Tochter, noch offen: Sie ist achtzehn, sie will irgendwann Regisseurin werden oder Designerin, und nicht Altenpflegerin wie ich. Tag für Tag drehe ich große und kleine Runden um den Alexanderplatz, besuche die alten Menschen und fange ihre schwindenden Schatten auf. Während ich ihren Erinnerungen zuhöre, kämme ich ihre schwachen Nylonhaare oder schneide ihre zähen Plastiknägel. Manchmal mag ich meine Arbeit sogar. Meiner Mutter aber, die jetzt bei mir zu Besuch war, habe ich gesagt, dass ich als Russischlehrerin arbeite. Nicht viele Stunden, aber es ist nette Kundschaft und so. Mir ist es peinlich, dass ich hier im Paradies nicht so weit gekommen bin wie erhofft. Und dass ich die fremden Alten mit dem Löffel füttere, während meine eigene Mutter irgendwo im weiten Osten allein in ihrem weißen, einäugigen Häuschen sitzt.
    Sie besucht uns immer im Winter, wenn der Garten ihre Fürsorge nicht braucht. Jedes Jahr, wenn wir uns sehen, hat ihr Körper weiter nachgegeben. Dieses Mal war es die rechte Hand – wie ein bräunliches Ziegeldach verkrümmt ist sie, und steif wie eine Krebsschere. Das war das erste, was mir auffiel, als Marina und ich sie am Ostbahnhof abholten. Sie stand auf der hohen eisernen Waggontreppe und streckte uns ihre alten Hände entgegen, so wie es kleine Kinder tun, die im Begriff sind, sich in die Arme der Großen fallen zu lassen.
    In meinem Erwachsenen-Leben war meine Mutter kaum präsent: Früh entschlüpfte ich dem Elternhaus, weil ich nicht so werden wollte wie meine peinlich provinziellen Ahnen, Verwandten und Nachbarn. Ich eilte weg, den wunderbaren Dingen entgegen, die mein Herz im Voraus zu schmecken glaubte. Mit Siebenmeilenstiefeln habe ich etliche Grenzen und Gräben überquert, eine Revolution gefeiert, meinen Kaschmirmantel abgetragen, tausende Avocados verzehrt, Dutzende von Wurstsorten gekostet, und nun bleibe ich immer öfter stehen und schaue zurück.
    Plötzlich werden mir viele Menschen aus meinem ehemaligen Leben wieder wichtig, und ich schaue nach Osten, wo sich verschwommene, vage Gesichter tummeln. Es sind die Onkel mit den weißen Hemden und den beißenden Papirossy, oder rundliche, scheue Tanten mit dicken Waden und geblümten Kleidern, die sich um eine festliche Tafel reihen. Auf dem Tisch Tomaten, Gurken, erschwingliche Cervelatwurst, Hähnchen mit obszön ausgebreiteten Schenkeln und eine langhalsige, mit einer silbernen Schirmmütze gekrönte Flasche. Wenn die Flasche leer ist, rücken die Frauen enger zusammen und singen, während die Männer sich um eine Sensation sammeln: Ein nagelneuer Moskwitsch mit kecken und spitzen Trabant-Flossen am Heck.
    Die Menschen erscheinen mir immer zusammen zu sein wie die Beeren bei den Weintrauben. Einsamkeit war ein rares Gut in den übervölkerten Räumlichkeiten, und ich phantasiere mir zusammen, dass sie sich alle auch wirklich geliebt haben. Das muss aber nicht wahr sein, denn das Ganze ist nichts mehr als ein Stummfilm, an dessen Montage mein launisches Gedächtnis jahrelang hartnäckig gearbeitet hat. Aus diesem Film scheint mir die Mutter ihre alten, verbogenen Hände entgegengestreckt zu haben, heraus ins heutige Berlin. Ich nahm sie in meine, und sie landete auf dem Bahnsteig des leeren Ostbahnhofes. Die Griffe ihrer schweren Taschen teilten wir uns, und so, verbunden wie die Glieder einer Kette, zwängten wir uns in den S-Bahn-Waggon.
    Zu Hause aßen wir erst eine dicke, mohnrote Kürbissuppe und dann kleine, weiße Nürnberger Würstchen. Meine
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