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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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die Hand des Vaters oder an deren Abwesenheit. Es stirbt die Erinnerung an den ersten Schnee und an die ersten lästigen Schamhärchen. An die glatte Haut der ersten Krawatte und an die ersten Erwachsenenpumps mit hohen Absätzen. Meine Mutter entsann sich oft, wie sie, Nachkriegskinder, die sie waren, dicke schwarze Stücke von Gummireifen an ihre Füße gebunden hatten, um in die Schule zu gehen – es war schlimm. Das Schlimmste aber war der Hunger. Hunger, Hunger, Hunger überall. Je älter meine Mutter wird, desto tiefer und pietätvoller beugt sie ihren Kopf über das Essen und hält dabei neuerdings eine Hand schützend um den Teller. Früher war es anders. Früher gab es viele Dinge, die sie von den Kindheitserinnerungen fern hielten. Mit dem Alter jedoch rückt die Vergangenheit immer näher: Der lange Weg liegt nun hinter ihr, der große Bogen ist geschlagen und schließt sich da, wo er seinen Anfang nahm: an der Türschwelle zum schwarzen Abgrund.
    Ihre Art zu essen nervt mich gelegentlich, genauso wie ihre Sturheit und ihre düsteren Prophezeiungen. Schließlich wohnten wir den ganzen Monat zu dritt in nur zwei Zimmern – so dass ich sogar etwas erleichtert war, als sie gestern wieder nach Russland fuhr. Es war aber eine peinliche Erleichterung, die gleich verflogen war: Wir sind hier zusammen, und sie sitzt nun wieder allein in ihrem weißen Haus, wo sie langsam eingehen wird, ohne uns. Ich will nicht, dass sie ohne mich stirbt – obwohl oder gerade weil ich den Großteil meines Lebens so weit entfernt von ihr verbracht habe. Und sie ist der Mensch, den ich am längsten kenne.
    „Ich bin im Häuschen“, sagt ein Kind und fügt seine Fingerspitzen über dem Kopf zusammen, wie einen Dachgiebel, wenn es um Auszeit oder um Gnade im Spiel bittet – ich will nicht, dass meine Mutter stirbt: denn ohne den Schatten, den die schützende Hand der Älteren bietet, wird meine Haut rasch schlaff und der Kopf grau.
    Ich trinke meinen ersten Kaffee, schaue aus dem Fenster zum Alexanderplatz hinunter, aber meine Gedanken sind irgendwo an der russisch-polnischen Grenze, wo meine Mutter gerade im Zug sitzt, der auf die Umspurung wartet. Bevor ich die Wohnung verlasse, bleibe ich im dunklen Korridor länger als sonst vor dem Spiegel stehen: Mein Leben lang leugnete ich die Ähnlichkeit mit der Mutter, jetzt aber entwickeln sich in den Spiegeltiefen immer deutlicher ihre hohen Wangenknochen, ihre Augen, mal braun, mal ocker – je nach Beleuchtung. Vielleicht soll ich meine grauen Haare, die neuerdings hier und da schimmern, auch mit Henna kaschieren? Die Augenlider blau nachziehen oder den Mund rot malen? Ich betaste flüchtig Marinas Lippenstifte auf dem Spiegelbrett und verlasse endlich die wie leer wirkende Wohnung.
    Draußen ist es hell, vom gestrigen Schnee ist nichts übrig geblieben. Feuchte Steinschuppen glänzen in der Sonne. Ich bleibe an der Ampel bei der Karl-Liebknecht-Straße stehen. Die Autos bewegen sich langsam, wie eine dichte Herde bunter, satter Säue. Die heiße Luft über ihren gepanzerten Rücken schmilzt und bebt. Hochhäuser, Kaufhof, Glasärmel des Bahnhofs, Betonboden – alles hier am Alex ist aus grauen Vierecken zusammengebaut – der ungemütliche Platz selbst hat sich in einem karogemusterten Netz verfangen. Windig und öde ist es hier um diese späte Morgenstunde – die fleißigen Frühmenschen haben sich schon in alle Himmelsrichtungen zerstreut, die Stunde der Freien hat geschlagen. Die wachen Rentner mit den Pusteblumenköpfen suchen ihre Zerstreuung vor der üppigen Kaufhofwursttheke; dicke und gepiercte Mütter schieben ihre Kinderwagen ins Handgemenge um die täglichen Supersonderangebote. Der weihnachtliche Schund im Inneren der provisorischen Marktbuden bleibt in dieser Morgenstunde noch hinter Fensterklappen versteckt. Die ersten fliegenden Wurstverkäufer legen schon weiche, blasse Würste auf die heißen Grillstäbe ihrer Bauchläden auf, und die kräftigen Ausdünstungen schweben über den Platz. Es ist ganz so, wie wir es uns einst geträumt haben: Wir säen nicht und ernten nicht, Licht und Wärme kriegen wir auf Knopfdruck, Liebe und Fürsorge per gesellschaftlichem Vertrag.
    Ich kaufe ein dickes Bündel wohlduftender Tannenzweige und schwebe hoch zu den Geleisen. Der S-Bahn-Waggon ist nicht voll, trotzdem bleibe ich an der Tür stehen. Im Abteil zu meiner Linken sitzen zwei junge Menschen einander gegenüber und lesen: weiße Zähne, zartbronzene Haut (Berge und Meer),
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