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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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wohltemperierte Glieder und Gedanken – eine Menschenspezies, die irgendwo in grünen Stadtvororten gezüchtet wird und liebevollen Eltern entspringt, die ihre Kinder bewundern und fördern. Solche Jungen und Mädchen werden selbst von den sonst so allmächtigen Pickeln gemieden. Er starrt in das Buch ‚Fucking Berlin. Studentin und Teilzeit-Hure‘ von Sonja Rossi, sie liest das Buch ‚Merde‘. Ihr glatt gekämmtes Haar schimmert wie die Oberfläche eines edlen Streichinstrumentes, der kleine freche Haarknoten sitzt hoch auf dem Wirbel. Die Köpfe der beiden Lesenden neigen sich zueinander wie die beiden Seiten eines Giebels, und es ist zu spüren, dass sie sich zwar nicht anschauen, aber wahrnehmen und mögen.
    An der Friedrichstraße schiebt sich eine Frau im Rollstuhl in den Waggon, die ihre aufgedunsenen und fußlosen Stümpfe den Fahrgästen entgegenhält. Als der Zug losfährt, rollt sie ungewollt zurück und prallt gegen die Haltestange. Die jungen Leser springen hoch zum Rollstuhl, und als ihre Hände über dem Kopf der Beinlosen in Berührung kommen, lächeln sie einander zu, um dann fürsorglich zur Frau zu sagen: Alles o. k.?
    Der junge Mann beugt sich zu dem Buch mit dem Titel ‚Merde‘, das bäuchlings auf dem Boden liegt, reicht es der jungen Frau und setzt sich wieder neben sie. Die Beinlose presst ihre Lippen vor Wut zusammen, eine Abstoßende, Ausgestoßene, Nichtgeliebte, vielleicht auch von Kindheit an. Die Frau im Rollstuhl spuckt auf den Boden vor den Füßen der jungen Menschen, denen sie wider Willen zueinander geholfen hat. Sie schimpft auf die Ungerechtigkeit dieser Welt und rudert davon. Ich wende mich zum Fenster.
    Der Zug schwebt über der Museumsinsel. In den Schießscharten ihrer majestätischen Tempel öffnen sich flüchtige Einblicke in die kühlen Welten des eingesperrten Altertums: Mal ein Weiberbein aus Marmor, mal ein trauriger, verbannter Heiland. Reichstag. Die schiefe Sony-Zeltkuppel hinter dem Tiergarten.
    Rechts unter dem S-Bahn-Viadukt huscht der anachronistische Campus der Charité vorüber: Rotsteinige Villen mit pittoresken Spitzengiebeln und schmalen Türmen, in die wir so gerne das düstere Mittelalter hineinträumen. Ganz vorne buhlt das Medizinischhistorische Museum mit seinen makabren und heißen Versprechungen um die Gunst der potenziellen Besucher: ‚Schmerz‘, ‚Stigmata‘, ‚Scham‘, ‚Sex brennt‘, ‚platz.wunden‘ – die geschickt komponierten Titel verwandeln sich in eindringliche, lästige Kopfwürmer, und sie suggerieren unappetitliche Visionen von eingelegten Drüsen und gedörrten Sehnen – diesmal lädt das Museum zum ‚Tanz mit Totentanz‘.
    Unser Waggon rollt unterm überdimensionierten Dach des Hauptbahnhofs ein. Tief unter den S-Bahn-Gleisen wimmelt ein mehrschichtig futuristisches Tohuwabohu: Die Rolltreppen, die auf unterschiedlichen Ebenen in unterschiedliche Richtungen gleiten, ergeben eine sinnestäuschende Escher-Welt. Das klein facettierte Glasfirmament ist mit einem gigantischen Werbeposter bezogen: Eine blondierte Riesin im Unterhemd und mit spitzabsätzigen Schuhen wälzt sich auf seidig schimmernden Bettlaken, vorgetäuschte Lust in den auffällig hellen Augen mit großen schwarzen Pupillen:
Ihr Hotel: Die schmutzigsten Fantasien kommen in sauberen Betten
. Wie die Ägyptische Himmelskuh wölbt sich die Blondine über dem märkischen Ninive an der Spree, wie ein belesener Bekannter Berlin nennt.

3
    Herr Struck, mein Pflegefall, für den ich heute die Tannenzweige gekauft habe, wohnt in einem Appartementhaus für Senioren. Im Gebäude riecht es stark nach lange warm gehaltenen, abgestandenen Menüs – ineinander geschachtelt ergeben die Gerüche den muffig-süßlichen Duft von zivilisierter Einsamkeit.
    Es ist ein langes Haus mit einem Treffpunkt namens
Oase der Liebe
im Erdgeschoss, wo auch die Verwaltung untergebracht ist. Im Büro ist keiner, außer meiner Kollegin Maria Benvenista. Ich bin froh, sie zu sehen: Maria ist in meinem Alter, wir verstehen uns gut und treffen uns gelegentlich auch nach der Arbeit.
    Maria ist eine Brasilianerin. Polen, Ukrainer, Bosnier, Mexikaner – hier im Berliner Appartementhaus für Senioren hat sich die proletarische Internationale wieder zusammengefunden. Altenpflege ist der Job der Ausgewanderten oder von gescheiterten Einheimischen. Unter meinen Kollegen sind viele Gelehrte: Theaterwissenschaftler, Geographen, Schauspieler oder Philologen; oder die Ungeduldigen, die von allem ein
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