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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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Mutter isst sie sehr gerne, Marina rümpft dabei immer ihre Nase. Was Augen hat, isst man nicht!
    Ich habe etwas für euch! Meine Mutter ging ins Zimmer und händigte uns jeweils einen chinesischen Fächer aus dünnem Holz aus.
    Sie können ganz nützlich sein bei der Hitze, sagte sie, wegen der Klimaerwärmung. Ein gewaltiger Riss breitet sich schon unaufhaltsam im Gletschereis aus, demnächst wird ein Riesenstück von der Antarktis abbrechen!
    Sie redet viel über Weltuntergang, detailgetreu und glaubwürdig. Wie Inseln in erwärmten Gewässern versinken, Küsten von Stürmen weggefegt werden, das Binnenland verbrennt. Selig sind die Erstgestorbenen, denn diese können noch anständig begraben und beweint werden. Selig werden die Vernachlässigten und geistig Armen sein, denn im Kampf um den letzten Brotkrümel wird ihnen die ungehemmte Kraft ihrer Ellbogen zum Vorteil gereichen – die Letzten werden die Ersten sein. Das Salzwasser wird unsere Quellen und Flüsse vergiften, Fische werden in den zu warmen Gewässern ersticken, Bienen sterben, Bären und Rehe auch – nur der Menschenschwarm wird sich auf der schrumpfenden Erde immer dichter zusammendrängen und immer eifriger an rasenden und fliegenden Maschinen schmieden, und diese werden wie Insektenschädlinge mit harten glatten Chitinrücken die restliche Erde befallen, um den letzten Hinterbliebenen Profit, Mobilität und Komfort zu gewährleisten.
    Beim Weltuntergang kommt es sowohl aufs Auto als auch auf das Fleisch an! Ich wünschte mir, dass die Fleischfresserei mit dem Kannibalismus gleichgesetzt wird! – Marina löffelte die rote Suppe und schaute dabei verächtlich mein angebissenes Würstchen an. Wieder entflammt eine feurige Diskussion. Marina sagt, es sei dringend ein Paradigmenwechsel erforderlich, denn unsere heutige Lebensweise sei unzeitgemäß und so empörend, wie es seinerzeit Inquisition und Sklaverei waren. Oder nehmen wir nur die kommunistischen oder faschistischen Regime in ihren Endphasen, als schon offensichtlich wurde, dass das alles moralisch nicht trägt, dass das Schiff eine fatale Schlagseite bekommt. Trotzdem haben fast alle mitgemacht … So wie die heutigen Autofahrer, Spaßflieger und Fleischfresser!
    Worauf ich meine Gabel auf den Teller warf und Marina mit vor Wut gedämpfter Stimme fragte, ob sie mich mit einer Faschistin gleichsetzten wolle?
    Da eilte mir meine Mutter zur Hilfe und leitete die Diskussion von meinem Würstchen weg zum durchschnittlichen amerikanischen Bürger, der ein Champion im Wasser-, Strom-, Benzin- und Fleischverbrauch ist und der das Klimaabkommen nicht unterschreiben will.
    Einkaufspaläste, tausende Quadratkilometer lang, offene Tiefkühltruhen, bescheuerte Kreuzfahrten! Amerikanischer Traum für alle! Und
notabene
– sie befördern ihre wohlgenährten Körper ausschließlich mit Personenkraftwagen!
    Das zählt alles nicht! Was zählt, ist mein Würstchen!, biss ich erbost in das weiche Ding auf meiner Gabel, und es blieb mir buchstäblich im Hals stecken.
    Um uns abzulenken oder zu beschwichtigen, legte meine Mutter ihre gekrümmten Hände auf unsere und berichtete, dass wir hier ganz nah an Satans Thron sitzen, und dieser befinde sich, laut Bibel, im Tempel von Pergamon. Es sei auch bewiesen, dass da Menschenopfer dargebracht wurden – für ein Huftier ist die Treppe zum Altar zu steil, die Stiege zu kurz. Kein Wunder, dass die zwei Weltkriege von Berlin aus angestiftet wurden – das Ungetüm strahle immer noch Unheil aus und sei gefährlich, vor allem wenn die letzten Tage so nah seien, orakelte meine Mutter. Das Fegefeuer kommt bald, sagt Vater Michail. Am 15. Mai des nächsten Jahres? Oder am 29. April? Weiß ich nicht mehr genau, flüsterte die Mutter, kratzte sich am Kopf und versteckte gleich darauf ihre Hände unter der Tischplatte, weil das Henna von ihrem frisch gefärbten Haar unter ihren Fingernägeln zu sehen war.
    Oma, wie kannst du solche wichtigen Termine vergessen!, kicherte Marina.
    Ich finde das gar nicht lustig!, sagte meine Mutter mit schmallippigem Lächeln. – Eure Zukunft macht mir große Sorgen.
    Und deine Zukunft beunruhigt dich nicht?, setzte Marina nach.
    Ich bin froh, dass ich mein Leben hinter mir habe.
    In Wirklichkeit aber war sie gar nicht froh darüber und redete über den Weltuntergang, um die Angst vor ihrem eigenen Ende zu beschwichtigen.
    Stirbt ein Mensch, stirbt auch eine ganze Welt: Die Erinnerung an den Geruch von Mutterschweiß und die Erinnerung an
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