Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
Vom Netzwerk:
Lichttropfen. Die Mutter wusch fremde Wäsche im Holztrog, und Günter starrte in den dreiteiligen Spiegel, in dessen vernebelten Abgründen er und seine Mütze sich, immer kleiner werdend, vermehrten. Im Sommer wurde der Vater in den Krieg einberufen. Der Sohn war stolz auf ihn und froh, dass er nun weg war von seiner Stieftochter, Günters Rivalin. Zu Weihnachten bekam der Vater Urlaub, und er wollte den Sohn wie gewohnt am Heiligen Abend besuchen.
    Nach langen Beratungen mit dem Spiegel zog die Mutter ein schönes Sommerkleid an. In der kalten Stube am Tisch wirkten ihre bloßen Arme unangenehm blass und die Hände fast lila. Als sie in die Küche ging, um nach dem mageren Kuchen zu sehen, malte sie ihre blauen Lippen rot an, was sie kein bisschen schöner machte. Der Vater dagegen sah in seiner Uniform prachtvoll aus. Er schenkte Günter ein Indianerfigürchen mit einem Kopfschmuck aus echtem Fell. Das wunderbare Männeken war sehr fein angemalt, bis hin zu den Augenbrauen und den Hosennähten.
    Günter wollte den Vater unbedingt bis zur Kreuzung begleiten, Hand in Hand gingen sie aus dem Haus. Es war dunkel, die mit Metall beschlagenen Stiefelabsätze schlugen auf dem Steinpflaster winzige Funken. Als Günter zu seinem Vater aufschaute, rutschte ihm die zu klein gewordene Schiffchenmütze vom Kopf. Sie verabschiedeten sich an der Kreuzung für immer. Mit dem kleinen Holzindianer spielte Günter sehr lange, auch wenn der Fellschmuck zerfiel, die Farben abblätterten und das Gesicht des Kriegers bald flach und abgegriffen war wie das Konterfei eines Helden auf einer antiken Münze.
    Wenn Herr Struck sprach, bildeten sich in den Mundecken weiße Sahneklümpchen, als ob sein Speichel beim Reden steif geschlagen würde. Sein Atem war säuerlich und muffig, ich drückte meinen Körper tiefer in die Sofaecke. Wenn ich etwas sagte, fragte Herr Struck immer nach und lehnte sich mit seinem rechten Ohr noch näher gegen mich, sein linkes Ohr war fast taub.
    Wegen einem Insekt, kicherte er, so eine Dummheit! Mitten im Krieg.
    Ohrwurm? So einer, dunkelbraun, wie lackiert, mit einem Zweizack am Schwanz?
    Ich weiß nicht mehr, es war wohl eher ein Feuerkäfer.
    Günter hatte den Käfer mit dem Zeigefinger tiefer ins Ohr geschoben, bemerkte es aber nicht. Erst hatte es bloß gejuckt, und dann, einige Tage später, tat es plötzlich weh, als sie alle gerade das große Feuer zu löschen versuchten.
    Die Phosphatbomben, Frau Lena, die waren gemein! Det Zeug ist nicht zu löschen!
    Die Nachbarn trugen heraus, was zu retten war, und Günter heulte immer lauter.
    Stell dich nicht so an, schon ohne dich ist es schlimm genug!, schrie die Mutter, schüttelte Günters Hand von ihrem Handgelenk und gab dem Sohn eine Ohrfeige. Als Günter in Ohnmacht fiel, heulte nun die Mutter und schleppte den Sohn zu Frau Roth, einer Frauenärztin, die um die Ecke wohnte. Die bekam es irgendwie hin. Das Ohr blieb noch lange geschwollen und stand fürchterlich ab. Bezahlen konnten sie Frau Roth nicht, und später, als die Stadt völlig kaputt war und die Läden geplündert, ergatterten Mutter und Sohn eine Schürze voll winziger Dosen mit französischen Gänseleberpasteten. Drei davon schenkten sie der Ärztin, Frau Roth, die dann später die Russenkinder abtreiben musste, für ganz Reinickendorf.
    Es gab bei uns keine Bastarde, nicht dass ich wüsste, sagte Herr Struck, hustete und schluckte seinen dicken Speichel.
    Det mit dem Ohr war schon ganz zum Schluss. Der Vater war schon gefallen und die ersten Russen kamen in die Stadt – Herr Struck musterte mich von Kopf bis Fuß –, wir hatten schon Schiss vor ihnen.
    Als der erste Russe zu ihnen kam, schob die Mutter Günter unter das Bett. Günter hat den Mann nicht gesehen. Nur seine Füße, die mit abgewetzten Lappen umwickelt waren. Der Russe versuchte seine geschwollenen Füße in Mutters Schuhe zu zwängen, sie waren ihm aber viel zu klein.
    Die Amerikaner aber waren schick gekleidet. 1948 habe ich mein erstes Cowboyhemd, kariert natürlich, auf dem Schwarzmarkt gekauft. Es gab damals weder Schuhe noch genug Seife, und das war ein Hemd, das so viel wie ein Mantel kostete. Cowboy, das war mein Jugendtraum. Cowboys, Arizona und so ein Kram. Und Sie, was wollten Sie früher werden? Kosmonautin?, lachte Herr Struck, und die Zigarette zitterte in seiner Hand wie der Schornstein eines fleißigen Lastkahns.
    Das grausige Vorspiel, der Krieg, war vorbei, aber da, wo das richtige, große Leben beginnen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher