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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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bereut, dass er Erna geheiratet hat, eine Brünette mit flacher Brust und borstigem dickem Haar, obwohl er immer eine blonde Frau mit großem Busen haben wollte? Ahnte er, dass sein Liebesleben in Wirklichkeit gar keines war? Hat er je bedauert, dass er statt eines prachtvoll schimmernden Lebens am Ende eine dicke Scheibe Wurst in die Hand bekam und Ernas Kollektion blauer Eierbecher dazu?
    Wir vergessen unsere Träume, schieben sie in eine entlegene Ecke, vernachlässigen sie, um sie zu bewundern und zu beweinen, wenn ihre Haltbarkeitsfrist längst abgelaufen ist.
    Ich will ein Generalissimus so wie Breschnjew werden!, sagte ich als Fünfjährige.
    Wir haben schon einen, und er ist für ewig!
    Dann werde ich Putzfrau und finde irgendwo in der Ecke ein Bonbon oder einen Diamanten.
    Meine noch jungen Eltern lachten. Sie lachten auch sonst viel, weil sie in die Not hineingeboren worden waren, und nun sah es so aus, als würde das Leben immer besser werden. Und es wurde. Nun reichte es für das Essen und sogar für etwas mehr. Die Frau des Kompaniechefs hatte einen Pudel und eine Perücke, mein Vater hatte ein Motorrad und unser Nachbar Kotov eine
Zenit
-Kamera, die in Kema die Fotos von mir gemacht hat.
    Mit dem Ehepaar Kotov teilten wir die Küche: ein gemeinsamer Ofen und zwei Tische in einander gegenüberliegenden Ecken. Der große Ofen hatte etwas Märchenhaftes, Frau Kotov mit ihren ausgefallenen Schlafröcken auch. Sie erinnerte mich an eine der fiesen Stiefschwestern von Aschenputtel, weil sie tagsüber schlief und schlampig kochte. In ihrer Kohlsuppe schwebten immer grobe, braune Zwiebelstücke. Ich kann diesen angebrannten Gestank nicht leiden!, zischte meine Mutter wütend hinter Frau Kotovs Rücken. Herr Kotov aber aß die Suppen seiner Frau gerne, danach rülpste er immer gutgelaunt. Er hatte einen blauen wollenen Trainingsanzug an, mit dünnen weißen Seitenstreifen und einem kurzen weißen Reißverschluss unter dem Hals. Es war die einzig mögliche Variante der Sport- und Freizeit-Bekleidung für Groß und Klein, unsere einheitliche zweite Haut. Wenn ich jetzt an Herrn Kotov in seinem blauen Trikot denke, spüre ich, wie der eng anliegende elastische Stehkragen sich um meinen Hals zusammenzieht.
    Wann immer es das Wetter erlaubte, spielten wir draußen. Im Winter gab es Schnee und Eis, im Sommer gab es Beeren und Mücken. Im Frühsommer fielen in Kema kahle, großmäulige Küken von den Bäumen. Waren sie von der eigenen Neugier an den Rand ihrer Existenz getrieben? Oder von den harten Mutterkrallen aus dem Nest gefegt? Die Jungen in Kema fädelten biegsame Gerten durch die blinden Augenhöhlen der Küken und machten Halsketten daraus: mit diesen Trophäen versuchten sie, uns Mädchen zu beeindrucken. Gerieten die zappelnden Küken in die Hände der Mädchen, wurden sie gepflegt, was aber nichts daran änderte, dass sie auch bald eingingen. Die kalten Leichname legten wir in mit Perlen, Steinen und bunten Federn geschmückte Kuhlen und bedeckten sie mit einer Glasscheibe. Meine erste Vögelchenleiche schmückte ich mit einer Hingabe, die der unserer skythischen Vorfahren glich. Am nächsten Tag schob ich die Erde vom Glas, um das Werk des Todes zu besichtigen. Die Grube schimmerte von den Perlen und dem Gold, in der Mitte lag das Vöglein, dem ein kleines Würmchen aus der Augenhöhle kroch. Im noch gestern eingefallenen Bauch wimmelte es von Leben, es schien fast, dass das Vöglein noch atmete.
    Einmal schaffte ich es, einen kleinen Stieglitz gesund zu pflegen. Der Abstand zwischen den zwei Fensterrahmen war groß genug, so dass er dort sogar probefliegen konnte. Die Nahrung reichte ich meinem Zögling durch die Lüftungsklappe, und eben diesen Weg nahm auch eine Katze. Ich kam ins Zimmer und sah, wie zwischen den Fensterscheiben gelbe, rote und weiße Federchen schwebten, langsam wie die Flocken in einer Schneekugel. Die Katze saß unten mit eng angelegten Ohren. Sie blickte mich verächtlich an, biss mit lautem Knacken in den kleinen Vogelschädel und leckte geduldig und geschäftig sein Inneres aus.
    Unsere Katzen und Hunde hatten keine Besitzer, außer dem hässlichen weißen Pudel. Das Fell um seine Körperöffnungen war rosig, wie entzündet – es war ein wollüstiges und alles fressendes Tier. Die Niemandshunde lebten im Rudel, alle hatten abgehackte Schwänze, und im Sommer hingen auf ihren Ohren in Reihen, wie die Perlen einer Kette, reife, knackige Zecken. Wir Mädchen überließen den Jungen
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