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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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Windeln tragen. Ihr Bettzeug muss täglich gewechselt sein, tagsüber gelingt es ihr manchmal, sich an die Kloschüssel zu erinnern. Meistens aber nicht.
    Mensch! Frau Gnuschke! Schon wieder! Warum weigern Sie sich, Windeln zu tragen?
    Wenn Denis noch leben würde, müsste ich hier nicht Ihre Schikanen über mich ergehen lassen!
    Er ist nicht tot! Er ist nur krank. Gehen wir ins Bad.
    Als ich sie wasche, empört sie sich, dass ich Gummihandschuhe anhabe:
    Es fühlt sich so unangenehm an. Dennis trägt nie welche!
    Vielleicht ziehen Sie doch die Windel an? Oder nehmen die Binden? Sie fühlen sich so seidig und trocken an!
    Dann empfehle ich sie Ihnen herzlich!
    Ich mache ja nicht in die Hose! Sehen Sie, wie viel schmutzige Wäsche im Korb ist!
    Es ist doch Ihre Arbeit, oder?
    Aber es riecht hier doch auch so, ist Ihnen das nicht unangenehm?
    Wenn Dennis nicht tot wäre, würden Sie mich hier nicht so quälen dürfen!
    Als ich zur S-Bahn die Treppe hochfahre, fällt die Dämmerung über die Stadt, deren Lichter wie glimmende Kohlen im dichten Nebel stehen. Der Waggon ist voll. Wie unterschiedlich gepolte Magnete stehen die Menschen eng aneinandergedrückt, die Arme unten. Kaum entkommt man einem Blick, stößt man erneut auf fremde Augen und dreht sich weg. In Strömen fließen wir aus dem Zug und stauen uns vor den Rolltreppen. Dicht aneinander tappen wir auf dem Bahnsteig, am Alexanderplatz laufen wir schnell auseinander.
    Der pechschwarze, wie eingefettete Asphalt kompromittiert die Darstellung eines Wintermärchens. Die bunten Gassen des Weihnachtsbasars um den Kaufhof herum sind übervölkert, die verdrossene Menge strömt durch die engen Gedärme des Marktes, kauft und kaut. Gut riecht es hier. Nach Mais, nach Mandeln, nach Zucker und Würstchen, die so klein wie ein Babydaumen sind oder meterweise angeboten werden. Ich kaufe mir eine mittelgroße, die rosig ist, und als ich daran kaue, denke ich wieder an Herrn Struck, denke, dass er in seinem Jenseits die Würste sehr vermissen wird. Sechs Jahre waren wir zusammen, wenn man das so sagen kann. In unserem Beruf empfiehlt es sich nicht, außerdienstliche Kontakte zu den Kunden zu pflegen, sonst kann es Abhängigkeiten geben. Es wird Aufmerksamkeit verlangt, und wenn man die Angebote ablehnt, fühlen sich die Pfleglinge verraten und ausgesetzt. Besser einsam als verlassen – also ging ich mit Herrn Struck nicht aus und gab ihm meine Telefonnummer nicht. Er war bloß ein Pflegefall, sage ich mir, und trotzdem geht er mir nicht aus dem Sinn. Wenn er am Freitag verbrannt wird, wo werden die Eisfarnfedern hin sein? Und seine Schiffchenmütze, vom Vater genäht? Wo werden die Erinnerungen an die großen, zerlumpten Siegerfüße sein, die sich in die kleinen Damenschuhe zwängen? Der Ausflug zur Scheune, wo der Trödler mit seinem Pferd wohnte – vom kleinen Günter angeführt, krochen die Jungen durch das hohe Unkraut ganz nah zum Verschlag und sahen durch die Türritze, wie der Trödler sein entblößtes und erregtes Geschlecht am Pferdebein rieb. Mit einer Hand streichelte er den rauen kastanienroten Schenkel, und das Pferd schielte zu ihm hinunter, ungeduldig und nachsichtig wie eine Frau, die den ungeliebten Ehemann unwillig an sich machen lässt. Eines Tages sahen die Kinder, wie der Trödler von zwei Polizisten abgeführt wurde. Der Mann tauchte nie wieder auf. Mit dem perversen und asozialen Kerl hatten die Jungen kein bisschen Mitleid. Und der alte Herr Struck dann erst recht nicht, wie er mir mehrmals versicherte.
    Im gleichen Sommer zündeten die Jungen statt Zigarren dicke braune Rohkolben an, um Passanten zu ärgern, der Spaß jedoch endete bitter: Die erboste Mutter zerrte Günter in die Küche und schlug ihm mit einem Tuch ins Gesicht. Bevor das feuchte Tuch gegen die Wange schmatzte, kippte Günter die heiße Kaffeekanne vom Herd, verbrühte sich und schrie wie am Spieß.
    Es ist wieder Krieg mit den Russen, wir werden nun sicher alle zu Grunde gehen, verstümmelt zu Grunde gehen! Hörst du, Günter?, tupfte die Mutter schluchzend die dunkle Brühe von der mageren Kinderbrust. Die Brandwunde, die wie ein verkleinertes Afrika aussah, verkrustete bald, dann wurde sie rosig und empfindlich, sie vernarbte, und in der Pubertät verschwand sie spurlos. Hier, siehst du, meine Kleine, hier war sie. Herr Struck öffnete sein Hemd, und mir stieg ein übler Duft von altem, abgestandenem Schweiß entgegen.
    Jetzt liegt sein Körper in der Kühltruhe, steif,
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