Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Öl!

Titel: Öl!
Autoren: Upton Sinclair
Vom Netzwerk:
KAPITEL 1
    Die Fahrt
    1
    Die Straße war glatt und makellos, genau vierzehn Fuß breit, die Ränder wie von einer Schere beschnitten, ein Band aus grauem Beton, das die Hand eines Riesen im Tal ausgerollt hatte. Das Gelände verlief in langgezogenen Wellen, ein sanfter Anstieg, dann eine abrupte Senke; man fuhr hinauf und rasch darüber hinweg – furchtlos, denn man wusste ja, das magische Band ohne alle Hindernisse, Holprigkeiten oder Scharten wartete schon auf die Luftreifen mit ihren sieben Umdrehungen pro Sekunde. Der kalte Morgenwind pfiff vorbei, ein Fahrtsturm, ein Summen und Brüllen mit ständig wechselnden Zwischentönen, doch man selbst saß komfortabel hinter der schrägen Windschutzscheibe, die den Luftstrom über die Köpfe hinweg ableitete. Manchmal hob man die Hand, um den kalten Windstoß zu spüren; manchmal lugte man seitlich an der Scheibe vorbei, ließ sich den Luftschwall auf die Stirn blasen und das Haar durchwühlen. Aber die meiste Zeit saß man schweigend und würdevoll da, weil so saß Dad auch da, und Dads Verhalten war das Richtmaß für die Gesetze des Autofahrens.
    Dad trug einen braunen Wollmantel, weich und weit geschnitten, zweireihig mit breitem Kragen, breitem Revers und breiten Taschenklappen – großzügig überall da, wo ein Schneider Großzügigkeit demonstrieren konnte. Den Mantel des Jungen hatte derselbe Schneider angefertigt, aus dem gleichen weichen Wollstoff und mit ebenso breitem Kragen, breitem Revers und breiten Taschenklappen. Dad trug Autohandschuhe, und im selben Laden hatte es die gleichen für Jungen gegeben. Dad trug eine Hornbrille. Der Junge war noch nie beim Augenarzt gewesen, aber in einem Drugstore hatte er eine Brille mit gelb getönten Gläsern und einer Hornfassung wie die von Dad gefunden. Einen Hut trug Dad nicht, denn er war der Ansicht, Wind und Sonne seien gut gegen Haarausfall, und so fuhr auch der Junge mit zerzausten Locken. Abgesehen von der Größe war der einzige Unterschied zwischen ihnen die dicke, braune, kalte Zigarre in Dads Mundwinkel, ein Überbleibsel aus den schweren alten Zeiten, als er noch Maultiergespanne kutschiert und Tabak gekaut hatte.
    Fünfzig Meilen zeigte der Tachometer, das war Dads Regelgeschwindigkeit für Überlandfahrten, und er behielt sie immer bei, außer bei Nässe. Auch Steigungen änderten daran nichts; ein kleines bisschen mehr Druck mit dem rechten Fuß, und das Auto raste weiter, höher und höher, bis es den Kamm erreicht hatte und ins nächste kleine Tal hinunterglitt, genau in der Mitte des magischen grauen Betonbands. Wenn der Wagen beim Hinunterfahren an Tempo zulegen wollte, verringerte Dad ein wenig den Druck seines Fußes, und durch den Widerstand des Motors wurde die Geschwindigkeit gedrosselt. Fünfzig Meilen waren genug, fand Dad; er war ein Mann der Ordnung.
    Aus weiter Ferne, über den Kämmen mehrerer Bodenwellen, näherte sich ein anderes Auto. Ein kleiner schwarzer Fleck, der nach unten verschwand und größer wieder zum Vorschein kam; beim nächsten Mal war er noch größer, und beim übernächsten Mal raste er schon von oben auf einen zu, schneller und immer schneller, ein gewaltiges Geschoss aus einer Sechs-Fuß-Kanone. Jetzt kam der Augenblick, in dem ein Autofahrer sein Können unter Beweis stellen musste. Das magische Betonband war nicht dehnbar. Der Boden an beiden Rändern war für Notfälle präpariert, aber man wusste nie, wie gut, und wenn man mit fünfzig Meilen in der Stunde weiterfuhr, begannen die Reifen unangenehm zu vibrieren; womöglich lag die sauber beschnittene Betonkante hier um mehrere Zoll höher als der Erdboden daneben und zwang einen, auf der nackten Erde weiterzufahren, bis man wieder eine Stelle fand, wo man auf die Fahrbahn zurückschwenken konnte; unter Umständen kam man auch in weichem Sand ins Schlingern oder auf nassem Lehm ins Rutschen und fand sich jählings am Endpunkt seiner Reise.
    Deshalb verbot es sich für einen guten Autofahrer, das magische Band zu verlassen – außer in äußersten Notfällen. Moralisch standen ihm mehrere Zoll Abstand zum rechten Straßenrand zu, aber dem Näherkommenden ebenso, und so blieb zwischen den beiden Geschossen nur ein Rest von wenigen Zoll. Das klingt gefährlich, aber der Sternenhimmel funktioniert nach ähnlichen Berechnungen, und obwohl es mitunter zu Zusammenstößen kommt, bleibt dazwischen doch so viel Zeit, dass sich Universen bilden und Geschäftsleute Karriere machen können.
    «Zusch!», machte das andere
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher