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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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ist hell hier, wegen der großen Fenster fast zu hell, in den Sonnenstrahlen tanzen kleine Lichtsprossen und verstärken die Ähnlichkeit des Raums mit einem Aquarium. Es gibt keine zufälligen Dinge hier, die Umwelt des alten Herrn Seitz ist steril und statisch, als ob hier keiner wohnte, und das fasziniert mich. Ich bin unter lauten chaotischen Frauen aufgewachsen, die sich den ganzen Tag mit dem Essen bemühten, und wo aus jeder Ecke bunte Stoffe und Lumpen quollen, unter denen sich die verzweifelt gesuchte Schere oder ein Kugelschreiber monatelang versteckt hielten. Bei Herrn Seitz dagegen herrscht Ordnung. Die Sachen ruhen gehorsam auf ihren Plätzen, und sie warten nur, bis du die Hand nach ihnen ausstreckst. Mir gefällt, dass Herr Seitz schnell und sehr akkurat isst – er isst nicht, er nimmt Essen zu sich, die Prozedur ist sachlich, wie Auftanken. Es bleibt kein Krümel auf dem Tisch, und die lästigen Essensdüfte werden fleißig weggelüftet.
    Warten Sie eine Sekunde, der Tee ist gleich fertig, ruft Herr Seitz aus der Küche.
    Soll ich helfen?
    Nein, danke! Setzen Sie sich, lassen Sie uns erst Tee trinken!
    Ich setze mich zum runden Tisch, vor meinen Augen liegt die aufgeschlagene Zeitung:
Tod im Kleiderschrank
.
    Der am Donnerstag in seinem Hotelzimmer in Bangkok tot aufgefundene Hollywood-Star David Carradine ist möglicherweise bei einem Sexspiel ums Leben gekommen. Sein Tod scheine bei einem selbstverschuldeten Unfall beim Liebesspiel eingetreten zu sein, sagte Gerichtsmedizinerin Porntip Rojanasunan. Auch Polizeichef Worapong Siewpreecha äußerte vor der Presse die Vermutung, der 72-jährige sei beim Masturbieren gestorben: Es war weder Selbstmord noch Mord, er starb, nachdem er sich selbst befriedigt hatte. Laut einem ersten Autopsiebefund starb Carradine an Sauerstoffmangel. Bei dem Butler, der kurz davor eine Flasche Whiskey ins Zimmer gebracht hatte, hatte sich Carradine noch über seine Einsamkeit beklagt
.
    Als Herr Seitz neben mir erscheint, klappe ich hastig die Zeitung zusammen. Tödliche Einsamkeit. Einsame Peinlichkeit. Peinliche Einsamkeit überall. In mir und neben mir. Der Dampf aus dem heißen Teekessel steigt auf, und das Gesicht des Alten wird rot und feucht. Er nimmt seine vernebelte Brille ab, und sein nacktes, ganz neues Gesicht verrät, dass er in diesem Moment um jeden Preis der Welt seine leichte Hand auf meinen gebeugten Kopf legen zu dürfen wünscht. Ich weiß, dass er mich mag, und bin ihm dafür sehr dankbar, da ich mich in seiner Anwesenheit auch mag.
    Der Kühlschrank, den ich heute putzen soll, hat einen großen Bauch und heißt ZIL MOSKWA – genau so einer steht in der Küche meiner Mutter: mein Jahrgang, ein Zeuge der goldenen Ära der sozialistischen Zivilisation. Das erste, was ich tat, als ich die Küche von Herrn Seitz zum ersten Mal betreten habe: Ich legte meine Hand auf den cremeweißen Kühlschrankbauch.
    Fast ein halbes Jahrhundert alt, immer noch taff!
    Ich mag das Ding auch, hustete Herr Seitz stolz. Der Dichtungsgummi gibt nach, ansonsten alles noch in Gang. Gute Arbeit, notabene hat Moskau mit seinen Maschinen damals, in den Sechzigern, General Electric ernst herausgefordert.
    Warum fühlte ich mich stellvertretend für dieses brummende Monster geschmeichelt? Herr Seitz sagte nichts weiter, und es war auch nicht nötig – in diesem Moment wusste ich, dass er, wie ich, ein Fan der Kosmonauten war, und nicht der Astronauten, und dass er auch nicht an die Mondlandung der Amerikaner glaubte. Dass wir beide zu den Menschen gehören, die es empörend finden, wenn jemand Maxim Gorki nicht gelesen hat, oder das Wort
Chatschaturjan
nicht aussprechen konnte. Wir haben immer noch nicht kapiert, warum die sowjetische Invasion in Afghanistan Krieg war und die von der NATO als Friedensmission gilt. Das selbstgefällige Amerika ist uns in vieler Hinsicht suspekt, gleichzeitig aber schämen wir uns insgeheim über unsere miserablen Englischkenntnisse. Wir beide haben einen Großteil unseres Lebens unter roten Fahnen verbracht, unsere Sensoren und Antennen bleiben wohl für immer nach links gekippt, selbst wenn wir uns ehrlich bemühen, sie aufrecht und in der Mitte zu halten. Wir sind halt Ossis, und wie viele andere Ossis auch müssen wir uns mit der schizophrenen Zwiespältigkeit der Erinnerung tragen: Der Verstand weiß Bescheid, die Seele aber zweifelt und will nicht glauben, dass all die Erfahrungen der untergegangenen Zivilisation nutzlos und lächerlich waren.
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