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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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entseelt, ohne Bewusstsein. Ich bin die einzige Hüterin seiner Erinnerungen. Wie eifrig und eilig versuchen die Alten ihr Leben nachzuerzählen – die Todesangst mit Wörtern zu bannen, das Nicht-Sein zu überlisten, wohl ahnend, dass das Wort länger lebt als das Fleisch. Wie viele Wörter gibt es, die ich mit niemandem teilen kann – ich bin voll davon. Ich muss die Arbeit wechseln, denke ich wieder. Ich schiebe mein angebissenes Würstchen in das enge Maul der Müllbox und eile weg, zu meinem nächsten Kunden, der ganz anders ist als Herr Struck.

5
    Ulf Seitz, den ehemaligen Journalisten einer Ostberliner Zeitung, habe ich vom ersten Blick an gemocht, weil er sehr deutsch auf mich wirkte: Er ist nüchtern im Gemüt, beherrscht und auch etwas pedantisch – er ist genau so, wie wir Russen uns einen kultivierten Deutschen vorstellen. Er wohnt in der Torstraße in einem alten Haus: Verstaubter, wie mit Ekzemen befallener Putz; schief aufgesetzte, eckige Giebel auf der linken Seite des Dachs; eine abgeschabte und furunkulöse zweiflügelige Tür. Durch die Tafel
Denkmal
veredelt, gleicht dieses wahnsinnige und dennoch majestätische Monster einem König aus einem Shakespeare-Stück. Mit all seinen großzügigen Ungereimtheiten, die von smarten Neuberlinern besonders geschätzt werden, wurde es zum Opfer einer um sich greifenden Stadtnahme – Herr Seitz ist einer der wenigen übriggebliebenen Eingeborenen hier.
    Von den Alteingesessenen wohnt hier auch eine alte Frau mit ihrem geistig behinderten, erwachsenen Sohn. Beide tragen Brille und Sporthosen und haben die gleichen Jacken an. Der Sohn hat eine sandfarbene Mähne um die Glatze und die Mutter einen Pferdeschwanz im Nacken. Die Jahrzehnte erzwungener Zweisamkeit haben aus ihnen ein Zwillingspaar gemacht – sie wirken gleichaltrig, gleichgeschlechtlich und gleichgesinnt. Ich habe die Frau nie mit jemandem reden sehen, sie wirkt völlig versunken im lebenslangen Dialog mit ihrem sprachlosen Sohn.
    Ein anderer Nachbar, der alte Herr Dreschke, kommuniziert dagegen ununterbrochen mit seiner Umgebung. Er bemüht sich sehr, gepflegt auszusehen, wirkt aber in seinen bunten Kleidern aus den wilden Siebzigern wie ein Narr. Er war früher Wächter im Pergamon-Museum, vielleicht ist er deshalb immer auf der Hut. Unermüdlich scheint er die Torstraße zu vermessen, geht sie hinauf und hinunter und grüßt großherzoglich all die Bürger, mit denen er Blickkontakt hat. Wenn ein Passant dann seinen Gang verlangsamt, verwickelt Herr Dreschke den Unvorsichtigen in ein endloses Gespräch. Von seiner Geselligkeit sind aber an erster Stelle Kassiererinnen in Supermärkten und Drogerien betroffen. Herr Seitz grüßt Herrn Dreschke sehr leise und wendet sein Gesicht gleich ab, als ob er sich seines lächerlichen Nachbarn schämen würde.
    Guten Tag, Fräulein Lena, guten Tag, schüttelt er hektisch und zart meine Hand und nimmt mir den Mantel ab. Wir umarmen uns leicht, und seine durchsichtigen Ohren, die wie zwei Flügelchen abstehen, fangen Feuer und leuchten im Gegenlicht rot. Er ist nicht groß und gut temperiert, das spärliche graue Haar hat er sorgfältig zur Seite gekämmt, er ist korrekt gekleidet, unten dunkel, oben hell. Über der blassen Oberlippe läuft mit etwas Abstand ein anachronistisch schmaler Schnurrbart, wie ihn oft Bösewichte in alten Schwarzweiß-Filmen tragen. Seine hellen Augen sind stahlgrau. Als ich mir dieser Tage das neue Wort
adrett
zu merken versuchte, dachte ich gleich an Herrn Seitz. An sein gebügeltes, steifes Hemd, an den Duft seines Rasierwassers – irgendetwas Frisches und Einfaches, wie ein Segel auf dem Meer … Genau so würde mein Vater duften, wenn er noch lebte.
    Die Wohnung wirkt altmodisch. Wuchtige, dunkle Vorkriegsmöbel. Krause Spitzenschleier. Dezent geblümte Tapeten. Dicke, kleinwüchsige Bücherregale. Eine Kopie des Bildes ‚Lange Brücke‘, mit Wilhelm hoch zu Ross, am prominentesten Stück Wand – so haben die Kulissen sowjetischer Filme ausgesehen, wenn es um solide deutsche Bürger ging.
    Auf der niedrigen Anrichte steht eine Tischuhr. In einem viereckigen Glasgehäuse ist ein durchsichtiges Zifferblatt eingeschlossen, hinter dem ein Haufen unterschiedlich großer Zahnräder zu sehen ist. Ich mag die Uhr nicht – die Zeiger, wie die Zahnräder aus Messing, sind schlecht zu erkennen, und überhaupt ist mir der Anblick dieser offengelegten Eingeweide, die meine Zeit fleißig und unaufhörlich verdauen, unheimlich.
    Es
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