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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition)
Autoren: Nellja Veremej
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bisschen gelernt haben, so wie Maria: Sie hat fast zehn Jahre lang in allen möglichen Fächern studiert und weiß über viele nutzlose Dinge Bescheid. Ich mag sie gerne, mehr als die anderen Kollegen. Sie ist eine schöne Frau – mit ihren gewölbten breiten Wangen und dem etwas vorstehenden Unterkiefer erinnert sie mich an einen Panther. Ihren dunklen Teint besonderer Art, der wie mit Asche hinterlegt wirkt, verdankt sie ihren indianischen Vorfahren, ihre Offenheit und ihren Mut, die ich so schätze, auch.
    Er ist tot. Am Samstag gestorben, flüstert sie mir ins Ohr.
    Schon vor zwei Monaten hat mich Herr Struck gebeten, ihm Tannenzweige zu kaufen. Er wollte unbedingt die sterbenden roten Blumen in den Balkonkästen damit bedecken. Ich vergaß es immer wieder. Nun sind sie endlich da, und er ist weg.
    Die spitzen Nadeln der Tannenzweige stechen mir in die bloßen Handflächen.
    Ich habe meine Handschuhe bei ihm vergessen. Kannst du mir den Schlüssel geben?
    Gut. Ich komme mit. Da können wir gleich etwas aufräumen, sagt Maria.
    Wir steigen die Treppe hoch und laufen durch den langen Korridor. Auf dem glatten Linoleum gleiten unsere schrägen unsicheren Schatten voraus. Maria steckt den Schlüssel ins Loch. Ich stehe auf der Türschwelle, die Tannenzweige in meinen Händen wie einen Totenkranz. Ohne ihren Herrn wirkt die Stube entstellt, ich erkenne sie kaum wieder.
Herein, meene Kleene!
, hatte er sonst immer gerufen. Ich trat dann vor ihn hin, er saß auf dem Sofa und streckte mir mit der Geste eines Betenden oder Sinkenden seine zitternden Hände entgegen. Herr Struck, früher Schlosser, war ein korpulenter Mann: Ein fleischiges Gesicht mit vielen winzigen Korallenzweigen geplatzter Gefäße, einer großen pflaumenfarbigen Unterlippe, dazu ungehorsame, zitternde Scherenhände.
    Tag, mein lieber Herr Struck, alles in Ordnung? Ich ließ mich neben ihn auf den speckigen Plüsch sinken.
    Er erzählte von der quälenden Nacht, über gemeine Zigaretten, die seinen Fingern entglitten waren, und immer wieder von den geilen russischen Frauen, die er erlebt zu haben glaubte. Währenddessen schnitt ich ihm, als seine russische Pflegerin, die Fingernägel und scharrte die harten Halbmonde auf der Glaspatte des niedrigen Sofatisches zusammen. Neben ihnen lag eine große silberne Weihnachtskugel, auf deren glänzender Oberfläche sich die ganze Stube verkleinert spiegelte, auch wir beide winzig, verzerrt, eng aneinander gerückt.
    Frau Lena, bitte kaufen Sie mir Tannenzweige! Es kommt bald Frost.
    Der war nun gekommen. Meine Handschuhe liegen neben der Weihnachtskugel. Hinter dem Fenster die welken, gefrorenen Geranien in den Kästen. Ich öffne die Balkontür, um die Zweige auf die toten Blumen zu legen, die silberne Kugel rollt vom Tisch und zerspringt.
    In der Mitte des Tisches liegt ein Adventskranz. Es wunderte mich immer aufs Neue, dass Herr Struck, der sonst Wochentage, Monate, Jahre, Jahrhunderte nicht mehr auseinanderhalten konnte, ab dem ersten Advent die Tage einzeln zählte, wie ein fleißiger Betender die Perlen seines Rosenkranzes. Nach Weihnachten beendete er den Countdown, und seine Zeit verwandelte sich wieder in chaotisch-buntes Garn. Wenn ich mich langweilte, zupfte ich mir aus dem Knäuel einige besonders schöne Fäden und flocht sie nach meinem eigenen Gusto neu zusammen.
    Herr Struck hieß mit Vornamen Günter. Als Junge hatte er mit seiner Mutter im Souterrain eines Berliner Hauses gewohnt. Eine winzige Küche gleich beim Eingang und eine Stube dahinter. Die Mutter putzte in gut bestellten Haushalten, der Vater, ein Schneider, wohnte mit einer anderen Frau und deren Tochter in Oranienburg vor Berlin und besuchte seinen Sohn einmal im Jahr – zu Weihnachten. Günter mochte es, sich an die Militärschiffchenmütze zu erinnern, die sein Vater eigenhändig angefertigt hatte und die er ihm 1939 zu Weihnachten schenkte. Der Junge liebte die Mütze über alles und trug sie sogar zu Hause, was der Mutter auf die Nerven ging. Sie arbeitete viel, oft brachte sie Sachen zum Waschen und Bügeln mit in die eigenen vier Wände. Die Wohnung war feucht, bei frostigen Temperaturen überzogen sich die Stubenfenster, die hoch, fast unter der Decke lagen, mit Eisblumen, üppig wie Federbüsche.
    Federbüsche? Das Wort hatte ich nie zuvor gehört.
    Det trägt ein Krieger auf dem Helm, meene Kleene, so ein krauses Ding.
    Am frühen Nachmittag wurden die Glasscheiben blau, von der niedrigen Decke hing ein gelber
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