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Die Dunkle Erinnerung

Die Dunkle Erinnerung

Titel: Die Dunkle Erinnerung
Autoren: Patricia Lewin
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Prolog
    Am Ende weinte der neue Junge doch.
    Während alle anderen schliefen, schluchzte er in der Stille des Hauses in seine Kissen. Ryan stand direkt vor der Tür und hörte das Geräusch, und ein Anflug von Trauer schnürte ihm die Kehle zu. Dieser Junge hatte länger durchgehalten als die meisten anderen. Zwei Tage war er schon hier und hatte keinerlei Anzeichen gezeigt, dass er schlappmachen würde. Man musste ihn beinahe bewundern.
    Ryan nahm das Tablett, schloss die Tür auf und glitt ins Zimmer.
    Das Schluchzen verstummte.
    Manche Kinder verloren fast augenblicklich die Nerven. Das waren die Verhätschelten, die unablässig nach Mama und Papa riefen. Bei anderen dauerte es länger. Die Straßenkinder, die Kämpfer. Sie wurden aggressiv und verbargen ihre Angst hinter hasserfüllten Worten und Wutausbrüchen. Und schließlich gab es die wirklich Starken, die geborenen Anführer. Sie sagten kaum ein Wort, gaben Ryan und den anderen nur durch frostiges Schweigen zu verstehen, dass sie sich verpissen sollten. So auch dieser Junge, der vorgab zu schlafen, während Ryan nun zu seinem Bett ging.
    Der Junge hatte gekämpft, hatte sich mit allen Mitteln gewehrt, hatte sogar das Essen verweigert. Doch sein Panzer aus Trotz und entschlossenem Widerstand hatte schließlich doch Risse bekommen.
    Seine Tränen waren Ryans Stichwort: Nun musste er dem Jungen Trost zusprechen. Ein paar nette Worte unter Kindern, die in einer Furcht erregenden Erwachsenenwelt gefangen waren. Doch Ryan war kein Kind mehr; mit seinen sechzehn Jahren gehörte er vom Alter her schon nicht mehr zu den Jungen und konnte sich nur noch um die leiblichen Bedürfnisse der Neuankömmlinge kümmern.
    »Ich hab mir gedacht, du hast vielleicht Hunger«, sagte er und stellte das Tablett auf den Nachttisch.
    Keine Antwort. Nicht einmal die leiseste Regung. Dann aber meldete sich der Überlebensinstinkt des Jungen; der Geruch von frischem Brot und heißer Hühnersuppe machte ihm seinen Hunger bewusst. Er rieb sich die Augen, wälzte sich herum.
    »So spät darf ich eigentlich kein Essen mehr raufbringen.« Ryan setzte sich auf die Bettkante. »Aber es schadet nicht, wenn ich mal 'ne Ausnahme mache.«
    Der Junge schob sich am Kopfbrett hoch. »Wer bist du?«
    Wieder spürte Ryan den Anflug von Trauer. »Ich heiße Ryan.« Er zögerte, dann verstieß er gegen eine seiner Grundregeln und fragte: »Und du?«
    »Weißt du das denn nicht?«
    Im Allgemeinen war es besser so. Es war leichter, nichts über die Kinder zu wissen, die Ryans Obhut unterstanden – nicht einmal ihre Namen. »Die erzählen mir hier nicht viel.« Das war die Wahrheit – und noch ein wenig mehr: eine Gemeinsamkeit mit dem neuen Jungen.
    Der schaute ihn jetzt zweifelnd an. Vielleicht überlegte er auch nur, welche Nachteile ihm die Preisgabe seines Namens einbringen mochte. Endlich antwortete er: »Cody Sanders.« Und nach einer kurzen Pause: »Wo bin ich? Was ist das für ein Haus?«
    Ryan betrachtete das große Schlafzimmer mit der Sitzgarnitur. Wie alle anderen Räume in diesem Flügel des Gebäudes war es einst zu einem Gästeschlafzimmer ausgebaut worden. Doch diese Zeit gehörte der Vergangenheit an. Nun war es ein goldener Käfig. »Ist bloß 'n Haus … vielleicht würdest du es ›Herrenhaus‹ nennen.« Dass er nicht einmal die genaue Lage wusste, behielt er für sich.
    Cody riss den Mund auf. Nach einigem Zögern fragte er: »Wo ist er?«
    »Trader, meinst du?« Es klang wie eine Frage, doch Ryan wusste genau, wen Cody meinte.
    »Heißt er so?«
    »Glaub ich nicht.« Schon seltsam, wenn einer sich den Namen ›Händler‹ zulegt. »Aber die Leute hier im Haus nennen ihn so.«Wenn sie es überhaupt wagten, über ihn zu sprechen. »Keine Bange, im Augenblick ist er nicht da.«
    »Warum hat er mich hergebracht? Was will er von mir?« Nun brach der Damm – wie jedes Mal, wenn die Kinder einmal mit den Fragen angefangen hatten. Sie flehten um Antworten, die Ryan nicht kannte oder nicht geben wollte.
    Er rutschte vom Bett. »Ich muss jetzt wieder los.« Gehen war einfacher als bleiben. »Wollte dir bloß das Essen bringen.«
    Cody schaute die Suppe an. Es war zu sehen, dass er Hunger hatte, doch er rührte das Essen nicht an. »Hilf mir von hier weg.« Nicht: Ich will zu meinen Eltern. Nur: Ich will weg von hier.
    »Das kann ich nicht.« Ryan wandte sich zur Tür. Er konnte ebenso wenig von hier verschwinden wie Cody. Und er wollte es auch gar nicht. Hier war er viel besser
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