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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
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dich wegen der Kleinen aufschlitzen wollte. Das hab ich so klar gesehen, wie ich dich jetzt sehe.«
    »Woran hast du das gesehen?«
    »An seinem Gang.«
    »Wo hattest du die Patronen her?«
    »Ich hab deine Sachen durchsucht. Hast du das nicht genauso gemacht, als du sie mir weggenommen hast?«
    Um drei Uhr nachmittags betrat Adamsberg die Gendarmerie. Fromentin, Hermel, Montvailland, Aimont und vier Gendarmen umringten Lawrence, der auf der äußersten Kante seines Stuhls saß, die Hände in Handschellen, und sie ruhig ansah. Der Kanadier folgte Adamsberg aufmerksam mit dem Blick, während dieser reihum seine Kollegen begrüßte.
    »Brévant hat angerufen, mein Lieber«, sagte Hermel, als er ihm die Hand schüttelte. »Sie haben gerade Massart ausgegraben, acht Meter von seiner Hütte entfernt am Hang. Er ist mit seiner Dogge, seinem Geld und seiner gesamten Bergausrüstung begraben worden. Die Fingernägel waren kurz geschnitten.«
    Adamsbergs Blick wanderte zu Lawrence, der ihn noch immer starr, mit einer Frage im Blick, ansah.
    »Camille?« fragte Lawrence.
    »Sie bereut nichts«, antwortete Adamsberg, der nicht wußte, ob er die Wahrheit sagte.
    Irgend etwas in Lawrences Körper schien sich zu entspannen.
    »Es gibt etwas, was nur du weißt«, sagte Adamsberg, ging zu ihm hinüber, zog einen Stuhl zu sich heran und setzte sich neben ihn. »Sollten noch mehr Männer umgebracht werden, oder war Hellouin der letzte?«
    »Der letzte«, erwiderte Lawrence mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. »Hab sie alle gekriegt.«
    Adamsberg nickte und begriff, daß Lawrence jetzt niemals mehr seine Ruhe verlieren würde.
    Mehr als zwanzig Stunden antwortete Lawrence auf die Fragen der Polizei, ohne den geringsten Versuch, irgend etwas zu leugnen. Friedlich, distanziert und auf seine Weise kooperativ. Er bat um einen sauberen Stuhl, weil er fand, daß der, den man ihm gegeben hatte, schmuddelig sei. Wie die Gendarmerie auch, schmuddelig.
    Er antwortete in elliptischen, aber präzisen Sätzen. Da er allerdings keinerlei Hilfe anbot und von sich aus keinen Kommentar abgab und - eher durch die ihm eigene Wortkargheit als durch bösen Willen - passiv darauf wartete, befragt zu werden, brauchten die Polizisten mehr als zwei Tage, bis sie ihm Stückchen für Stückchen die gesamte Geschichte entlockt hatten. Camille, Soliman und der Wacher wurden im Laufe des Dienstags als Hauptzeugen gehört.
    Am Abend des dritten Tages erbot sich Hermel, an Adamsbergs Stelle einen ersten kurzen Bericht zu diktieren. Adamsberg, der derlei logische und synthetische Übungen verabscheute, nahm das Angebot dankbar an und lehnte sich an die Wand des Büros. Hermel überflog rasch seine Notizen und die seines Kollegen, breitete sie auf dem Tisch aus und schaltete das Tonband ein.
    »Welchen Tag haben wir heute, mein Lieber?« fragte er.
    »Mittwoch, den 8. Juli.«
    »Gut. Schnell gemacht, mein Lieber, wir nehmen es auf und vervollständigen es morgen. ›Mittwoch, 8. Juli, 23 Uhr 45. Gendarmerie von Châteaurouge, Hâute-Marne. Vernehmungsprotokoll von Stuart Donald Padwell, fünfunddreißig Jahre alt, Sohn von John Neil Padwell, amerikanischer Staatsbürger, und Ariane Germant, französische Staatsbürgerin, angeklagt wegen vorsätzlicher Tötung. Die Vernehmungen erfolgten am 6., 7. und 8. Juli durch Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg und Hauptmann Lionel Fromentin, in Anwesenheit von Kommissar Jacques Hermel und Hauptmann Maurice Montvailland. John N. Padwell, der Vater des Beschuldigten, trat 19... - Sie geben mir noch die Daten, mein Lieber - wegen vorsätzlichen Mordes an Simon Hellouin, dem Liebhaber seiner Frau, eine Haftstrafe im Gefängnis von Austin an. Die Tat war vor den Augen seines damals zehnjährigen Sohnes verübt worden.‹«
    Hermel schaltete das Tonband aus und wandte sich mit einer Kopfbewegung an Adamsberg.
    »Können Sie sich das vorstellen, mein Lieber?« sagte er. »Vor den Augen des Kindes. Wo ist der Junge danach hingekommen?«
    »Bis zum Prozeß ist er bei seiner Mutter geblieben.«
    »Ja, aber dann? Als sie abgehauen ist?«
    »Er wurde in eine Einrichtung, eine Art staatliches Waisenhaus verfrachtet.«
    »Eiserne Disziplin?«
    »Nein, eine tadellose Einrichtung, nach allem, was Lanson geschrieben hat. Aber wenn dem Jungen noch irgendeine Chance blieb, der Psychose zu entgehen, hat der Vater sie endgültig zerstört.«
    »Die Briefe?«
    »Ja. Im ersten Jahr hat er ihm fünf- oder sechsmal geschrieben, dann häufiger. Einen
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