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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht
Autoren: Fred Vargas
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offensichtliche Strecke. Und Adamsberg sah die gesamte, teuflisch geplante, mit Schmerzen und Brutalität gepflasterte und mit einer Prise Genie versehene Strecke von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende.
    Er blieb stehen, setzte sich zu Füßen eines Baumes auf den Boden und prüfte die Stichhaltigkeit seiner Gedanken. Nach einer Viertelstunde stand er langsam auf, machte kehrt und wandte sich in Richtung der Gendarmerie von Châteaurouge.
    Auf halber Strecke, bei der Einmündung des Weges, der die beiden Felder trennte, blieb er wie angewurzelt stehen. In fünf oder sechs Metern Entfernung versperrte ihm eine dunkle, massige, zusammengekauerte Gestalt den Zugang zum Weg. Die Nacht war nicht hell genug, um Gesichtszüge zu erkennen. Aber Adamsberg wußte in diesem Moment, daß er dem Werwolf gegenüberstand. Dem umherziehenden Mörder, dem Mann der ständigen Ausweichmanöver, dem, der sich seit nunmehr zwei Wochen verborgen hielt und der jetzt endlich für ein mörderisches Duell aus seiner Deckung kam. Bis jetzt hatte keines seiner Opfer den Angriff überlebt. Aber keines seiner Opfer war bewaffnet gewesen. Adamsberg schätzte die beeindruckende Größe der Gestalt ab und wich ein paar Schritte zurück, während der Mann schweigend und leicht schwankend langsam näher kam. Wie glühende Holzstückchen, Bürschchen, wie glühende Holzstückchen leuchten die Wolfsaugen in der Nacht. Mit der linken Hand zog Adamsberg seine Pistole und merkte am Gewicht, daß die Waffe leer war.
    Der Mann stürzte sich auf ihn und brachte ihn mit einem einzigen gewaltigen Stoß aus dem Gleichgewicht. Adamsberg wurde mit dem Rücken auf den Boden gepreßt und verzog schmerzerfüllt sein Gesicht, während die Knie des Mannes mit ihrem gesamten Gewicht seine Schultern niederdrückten. Mit seinem linken Arm versuchte er, die Masse, die ihn am Boden hielt, abzuwehren, aber dann ließ er ihn kraftlos zurückfallen. In der Dunkelheit suchte er den Blick seines Gegners.
    »Stuart Donald Padwell«, keuchte er. »Dich habe ich gesucht.«
    »Halt's Maul«, erwiderte Lawrence.
    »Laß mich los, Padwell. Ich hab die Bullen schon benachrichtigt.«
    »Nicht wahr«, entgegnete Lawrence.
    Der Kanadier griff in seine Jacke, und Adamsberg erkannte in seiner Hand, direkt vor seinem Gesicht, einen weißen Kiefer, der ihm riesig erschien.
    »Der Schädel eines Polarwolfs«, sagte Lawrence höhnisch. »Du stirbst nicht unwissend.«
    Ein Schuß zerriß die Luft. Lawrence schreckte hoch, ohne sein Gewicht von Adamsberg zu nehmen. Mit einem Satz war Soliman bei ihm und drückte ihm den Lauf des Gewehrs auf die Brust.
    »Keine Bewegung, Trapper!« brüllte Soliman. »Oder ich jag dir eine Kugel durchs Herz. Hinlegen! Auf den Rücken!«
    Lawrence legte sich nicht hin. Mit erhobenen Händen stand er langsam auf - in einer eher aggressiven als fügsamen Haltung. Soliman hielt ihn mit dem Gewehrlauf in Schach und drängte ihn rückwärts zum Maisfeld. In der Nacht wirkte Solimans hochaufgeschossene Silhouette erschütternd zierlich. Der junge Mann würde dem Schock nicht lange standhalten, Gewehr hin oder her. Adamsberg suchte nach einem schweren Stein und zielte auf den Kopf. An der Schläfe getroffen, sackte Lawrence zusammen. Adamsberg stand auf, ging zu ihm und untersuchte ihn.
    »Das reicht«, keuchte er. »Gib mir irgendwas zum Fesseln. Er wird nicht lange so bleiben.«
    »Ich hab nichts zum Fesseln«, sagte Soliman.
    »Her mit deinen Klamotten.«
    Während Adamsberg die Lederriemen seines Holsters löste und sein Hemd auszog, um etwas zum Festbinden zu haben, gehorchte Soliman.
    »Nicht das T-Shirt«, sagte Adamsberg. »Gib mir deine Hose.«
    In Unterhosen fesselte Soliman Arme und Beine des Kanadiers, der stöhnend auf dem Boden lag.
    »Er blutet«, sagte er.
    »Er wird sich wieder erholen. Sieh her, Soliman, sieh dir das Tier an.«
    Im schwachen Nachtlicht zeigte Adamsberg Soliman den großen weißen Schädel des Polarwolfs, den er sorgfältig am Hinterhauptsloch festhielt. Soliman streckte entsetzt die Hand danach aus und fuhr mit dem Finger über die Spitzen der Zähne.
    »Er hat die Spitzen geschärft«, sagte er. »Das schneidet wie Säbel.«
    »Hast du dein Telefon?« fragte Adamsberg.
    Soliman tastete im Gras nach seiner Hose und zog das Handy heraus. Adamsberg rief die Polizei in Châteaurouge an.
    »Sie kommen«, sagte er und setzte sich neben dem Kanadier ins Gras.
    Er legte den Kopf auf die Knie und bemühte sich, langsam zu atmen.
    »Wie hast du mich
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