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Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte

Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte

Titel: Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
Autoren: Kuehnemann Nadine
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Prolog
     
    Haven, Südengland, 12. August 1849
     
    Der Liebreiz dieser Nacht war trügerisch, denn nach dem anhaltenden Regen der letzten Tage war sie wie geschaffen für einen Hinterhalt. Es war eine Schande, den Frieden mit Blut besudeln zu müssen, aber eine Gelegenheit wie diese würde alsbald nicht wiederkehren. Keine Wolke trübte den Blick auf das schwarze Firmament, welches mit unzähligen Sternen gespickt war. Hier am Stadtrand brannten die Gaslaternen nicht die ganze Nacht hindurch, und so umhüllte die Dunkelheit die zwei Gestalten, die sich lautlos über die Dächer bewegten. Die Straße unter ihnen war zu so später Stunde menschenleer, nur ein paar Ratten huschten über den Bürgersteig, reckten ihre Nasen schnüffelnd in den Wind und verschwanden dann in einem Loch unter der Bordsteinkante.
    »Hier ist es. Bleib stehen«, flüsterte Lesward. Ray drehte sich zu ihm um und nickte. Mit einer Hand umfasste er eine verzierte steinerne Säule, die den oberen Abschluss der Gebäudemauer bildete. Er suchte mit den Füßen einen sicheren Halt zwischen den Dachpfannen und ließ sich langsam auf sein Hinterteil sinken. Sein Kamerad tat es ihm nach. Wie so oft oblag Lesward das Kommando über die Gruppe. Ray respektierte seine Entscheidungen, obwohl er nur widerwillig Befehle ausführte.
    Ray verengte die Augen zu Schlitzen und spähte auf die andere Seite der Straße, die von hohen Pappeln gesäumt wurde. Das dichte Laubwerk verwehrte ihm den Blick auf die dahinter liegende alte Lagerhalle.
    »Bist du sicher, dass dies der richtige Ort ist?«, knurrte er.
    »Camael observiert die Halle schon seit mehreren Nächten«, sagte Lesward, den Blick starr nach vorn gerichtet. »Es ist ein Treffpunkt für Jugendliche und Verliebte.« Lesward verdrehte unmerklich die Augen, und die Art, wie er seinen letzten Satz betonte, ließ keinen Zweifel darüber offen, was er von romantischen Liebeleien hielt. Sich selbst hingegen betrachtete Lesward als einen finsteren, unwiderstehlichen Gesellen, dem die Frauen zu Füßen liegen mussten. Und meistens behielt er in diesem Punkt sogar Recht. Seine blonden, stets ungekämmten Haare und der gelbliche Schimmer in seinen Augen verliehen ihm ein geheimnisvolles Aussehen. Ray schüttelte seine Gedanken ab. Sie hatten schließlich eine Mission zu erfüllen.
    »Was lagern die Menschen dort?«, fragte Ray.
    »Nichts mehr. Die Halle ist leer. Zumindest war sie es bis gestern noch.«
    Ray wandte den Kopf nach vorn und suchte die Straße mit den Blicken ab. »Wo sind die anderen?«
    Lesward deutete mit dem Kinn auf die Halle. »Sie behalten den Hintereingang im Blick. Ich weiß nicht genau, welchen Platz sie sich ausgesucht haben. Ich denke, sie sitzen irgendwo in den Bäumen.«
    Ray lauschte in die Nacht hinein. Außer dem weit entfernten Lärm der Stadt konnte er keine verdächtigen Geräusche ausmachen. Nur wenige Schritte hinter der Lagerhalle warfen sich seichte Wellen gegen die Kaimauer, ansonsten blieb es still. Dieser alte Teil des Hafengeländes wurde von den Menschen schon seit langem nicht mehr genutzt. In der Ferne flackerten vereinzelt Lichter, die auf der Wasseroberfläche zu tanzen schienen. Es waren die erleuchteten Behausungen auf Falcon’s Eye, der Insel der Besserverdienenden, die auch für Ray und die anderen Krieger eine Heimat war.
    Ray verlor das Zeitgefühl. Er wusste nicht, wie lange sie bereits vom Dach des dreistöckigen Gebäudes auf die darunter liegende Straße starrten. Seine Muskeln waren angespannt, er fühlte sich hellwach. Eine Mischung aus Erregung, Anspannung und Vorfreude durchflutete seinen Körper. Er wusste, dass seine Augen aufgrund der Konzentration und der inneren Unruhe gelblich funkelten. Lesward erging es scheinbar wie ihm. Ray glaubte, sein Herz trotz der Distanz zwischen ihnen schlagen zu hören. Ray fürchtete sich nicht. Er fürchtete sich nie. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal das beklemmende Gefühl von Angst in sich gespürt hatte. Er wusste, dass es ihm eines Tages zum Verhängnis werden konnte, aber auch in dieser Nacht rang er seine Emotionen nieder. Es zählte einzig ihre Mission.
    Die Haare auf seinen Armen sträubten sich, als er in der Ferne das lauter werdende Geräusch von schlurfenden Schritten vernahm. Er drehte den Kopf und sah, wie sich zwei Gestalten aus der Dunkelheit schälten. Sie waren noch zu weit entfernt, um mehr als ihre vagen Silhouetten erkennen zu können.
    Lesward schnaubte.
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