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Bei Anbruch des Tages

Bei Anbruch des Tages

Titel: Bei Anbruch des Tages
Autoren: Sveva Casati Modignani
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Zahnbürste, Zahnseide, eine Tube Sonnencreme, eine Haarbürste und ein Flakon mit dem Vetiver-Aftershave.
    Sie zog sich wieder an, kehrte in den Salon zurück und trat an die Balkontür: Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Himmel war grau und bedeckt.
    Sie trank den heißen Tee und ließ die Süßigkeiten liegen.
    Es klopfte erneut. Es war das Zimmermädchen, das die getrockneten und auf Hochglanz polierten Schuhe brachte.
    Â»Der Mantel braucht noch eine Weile«, sagte sie.
    Léonie ging ins Erdgeschoss, durchquerte die verlassene Lobby und betrat die Bar.
    Am Tresen standen mehrere Gäste, ein Paar saß an einem Tischchen, und Roger Bastiani stand mit dem Rücken zu ihr vor der Panoramascheibe, die auf die Terrasse hinausging.
    Er hatte seinen Anorak ausgezogen. Der weiße Wollpulli mit Zopfmuster ließ breite, kräftige Schultern erkennen. Sein braunes Haar kräuselte sich in seinem Nacken.
    Er hatte die Hände in die Taschen seiner Skihose gesteckt. Léonie trat näher.
    Â»Hier bin ich wieder!«, sagte sie.
    Er drehte sich um und lächelte.
    Â»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Jetzt fühle ich mich wieder versöhnt mit der Welt«, fuhr Léonie fort.
    Â»Setzen Sie sich!«, sagte er und zog einen kleinen Sessel vor. »Ich habe darum gebeten, dass uns zwei Toasts und zwei Tassen mit heißem Tee gebracht werden. Die Essenszeit ist schon vorbei, und Sie müssen unbedingt etwas zu sich nehmen, bevor Sie weiterfahren.«
    Er nahm gegenüber von ihr Platz, während der Kellner eine blütenweiße gestärkte Tischdecke auflegte.
    Â»Darf ich auch ablehnen?«, fragte sie. Sie hatte keine Eile, nicht jetzt, da sie die Familie benachrichtigt hatte, aber die Selbstverständlichkeit, mit der der Fremde den Gastgeber mimte, war ihr etwas unheimlich.
    Â»Kommt nicht infrage. Ich weiß nicht, was Sie heute noch vorhaben, aber wenn Sie eine Viertelstunde länger bleiben, um sich zu stärken, wird das Ihr Leben schon nicht auf den Kopf stellen.«
    Â»Sie haben eine seltsame Art, mir Ihre Großzügigkeit aufzudrängen.«
    Â»Ich bin kein Freund von Formalitäten oder unsinnigen Höflichkeitsfloskeln. Und jetzt essen Sie!«, fuhr er fort, als der Kellner warmen Toast und dampfenden Tee servierte.
    Â»Auf dem Tischchen in Ihrer Suite habe ich Unterlagen zu einem Geburtshilfe-Kongress gesehen. Sind Sie Gynäkologe?«
    Â»Ich habe mich für dieses Fachgebiet entschieden, obwohl mein Vater, ein genialer Arzt, kurz nach meiner Geburt zu meiner Mutter gesagt hat: ›Wenn dieses Kind schlau ist, wird es entweder Internist wie ich oder Chirurg wie du. Hauptsache, es hat geschickte Hände. Und wenn nicht … wird es eben Gynäkologe!‹ Das haben sie mir belustigt erzählt, als ich verkündet habe, dass ich mich auf Geburtshilfe spezialisieren will«, erzählte Roger amüsiert.
    Léonie lachte herzlich und sagte dann: »Glauben Sie bloß nicht, dass ich Ihnen das abnehme! Sie haben mir nur einen guten Witz erzählt. Trotzdem, ich sollte jetzt lieber nach Hause fahren. Herzlichen Dank für Ihre unglaubliche Liebenswürdigkeit.«
    Â»Ich habe nichts anderes getan, als Ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Aber ich wollte nicht, dass Sie sich von so einem kleinen Problem unterkriegen lassen.«
    Â»Sie hatten recht, und Ihre Hartnäckigkeit hat mir sehr geholfen, Dottore«, erwiderte Léonie. »Es tut mir nur leid, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.«
    Â»Ich habe heute frei. Ich sollte in Bellagio sein, zusammen mit den anderen Kongressteilnehmern, aber ich bleibe lieber hier in Varenna im Hotel, denn auf der anderen Seeseite ist mir zu viel los. Der Kongress ist in zwei Tagen vorbei, und meinen Vortrag halte ich erst morgen.«
    Sie wurden von der Hotelbesitzerin unterbrochen, die Léonies Mantel in der Hand hielt.
    Â»Sehen Sie, Signora, wie schön er geworden ist! Das ist ein fantastischer Stoff, der das Wasser gut vertragen hat.«
    Â»Bitte sagen Sie mir, was ich Ihnen dafür schuldig bin«, bat Léonie.
    Die Blondine schwieg, legte den Mantel nur vorsichtig über die Sessellehne und ging.
    Â»Jetzt sollte ich aber wirklich fahren, sonst ist es gleich dunkel«, sagte Léonie zu Roger.
    Â»Stimmt, heute ist Wintersonnenwende, der kürzeste Tag des Jahres. Ab morgen werden die Tage wieder länger, wenn auch nur
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