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Bei Anbruch des Tages

Bei Anbruch des Tages

Titel: Bei Anbruch des Tages
Autoren: Sveva Casati Modignani
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ganz in Erinnerungen versunken, und Léonie dachte wieder daran, wie sanft Rogers Lippen sie berührt hatten, und wie er gesagt hatte: »Im nächsten Jahr werde ich zur Wintersonnenwende wieder hier sein … und auf dich warten.«
    Â»Warst du in Morbegno?«, fragte die Schwiegermutter und riss sie aus ihren Gedanken.
    Â»Ja, und ich habe dir bitto mitgebracht«, erwiderte Léonie.
    Â»Du bist ein Schatz. Du hast doch niemandem etwas verraten?«
    Â»Du kannst dich auf mich verlassen!«
    Â»Worauf wartest du dann noch? Lass mich davon kosten!«
    Â»Wir treffen eine Abmachung: Ich bringe dir ein Stück bitto , und du erzählst mir von Nonna Bianca.«
    Â»Das ist keine Abmachung, das ist Erpressung! Aber angesichts der Tatsache, dass sich schon Leute für einen Teller Linsen verkauft haben, nehme ich lieber den bitto . Der ist viel würziger!«, scherzte Celina. Und begann zu erzählen.

Bianca

1
    D ie Hoffnung des Commendator Luigi Crippa, seine florierende Firma, die er so mühsam aufgebaut hatte, eines Tages in die Hände seines Erstgeborenen legen zu können, war zerstört worden, als sein Sohn während des Ersten Weltkriegs im Karst fiel. Damals hatte ihn ein unglaublicher Schmerz erfasst, von dem er sich nie mehr erholen würde. Manchmal beobachtete er Bianca, seine Zweitgeborene, die er als alter Mann gezeugt hatte, und bedauerte, dass sie ein Mädchen war und als solches ungeeignet, die Leitung von Crippa-Armaturen zu übernehmen.
    Die Kleine spürte die Ablehnung des Vaters und ging auch der Mutter aus dem Weg, die in ihr nur eine Laune des Schicksals sah. Schließlich war sie schwanger geworden, als sie längst glaubte, keine Kinder mehr bekommen zu können.
    In der Obhut der Bediensteten wuchs Bianca zu einer launischen Schönheit heran. Nachdem man sie aufs Ursulinen-Internat nach Mailand geschickt hatte, war sie mit sechzehn noch schöner von dort zurückgekehrt.
    Wenn Signora Crippa mit den Nerven am Ende war, rief sie den Pfarrer und sagte: »Ich flehe Sie an, Signor prévôt , reden Sie mit ihr und segnen Sie sie, denn sie hat den Teufel im Leib.«
    Der Mann, ein Pfarrer vom Land, saß im Salon vor dem Mädchen und fragte: »Sag, Bianca, was quält dich?«
    Â»Nichts, Don Giuseppe.«
    Â»Warum treibst du dann deine armen Eltern dermaßen zur Weißglut?«
    Â»Sie hassen mich. In ihrem Herzen ist nur Platz für meinen Bruder, dem im Krieg gefallenen Thronerben. In diesem Kaff hier, in dieser Villa, die ihrer Meinung nach ein Schloss ist, fühle ich mich mutterseelenallein. Ich will weg von hier, doch stattdessen halten sie mich regelrecht gefangen.«
    Biancas Worte enthielten durchaus ein Körnchen Wahrheit, und das wusste sogar der Pfarrer, obwohl er so tat, als sähe er es nicht. Einerseits aus christlichem Mitleid heraus, andererseits wegen der Spenden, die Commendator Crippa seiner Pfarrei zukommen ließ.
    Â»Du musst Geduld haben, meine Tochter. Wenn dir dieses Haus die Luft zum Atmen nimmt, denk einfach daran, dass der liebe Gott dir eines Tages einen netten jungen Mann schicken wird. Er wird dich heiraten, und dann kannst du mit ihm fortgehen«, tröstete er sie.
    Â»Ganz wie Sie meinen, Don Giuseppe. Also segnen Sie mich bitte, stecken Sie den Umschlag ein, den Ihnen meine Mutter gleich überreichen wird, und lassen Sie mich in Frieden.«
    Das ebenso intelligente wie unglückliche Mädchen tat dem Pfarrer leid. Seufzend segnete er es und ging.
    Â»Der nette junge Mann«, den Don Giuseppe ihr gewünscht hatte, tauchte eines Tages in Gestalt des Sohnes eines Bauunternehmers auf, der einen Vertrag mit Commendator Crippa geschlossen hatte.
    Unweit von Lodi gehörte ein altes Kloster zum Kirchenbesitz, das restauriert und in ein Priesterseminar umgewandelt werden sollte.
    Luigi Crippa hatte den Auftrag für die Klempnerarbeiten erhalten und beschlossen, den Ingenieur und Bauunternehmer Castelli, der die Arbeiten leiten würde, zusammen mit seinem Sohn Generoso zu sich nach Hause einzuladen.
    Der junge Mann kam mit zwei großen Blumensträußen, einem für die Hausherrin und einem für die Tochter. Er fuhr in einem silberblauen Fiat Super vor, war von seinem Londoner Schneider nach der neuesten Mode eingekleidet worden, hatte das Haar mit Pomade zurückgekämmt und den Schnurrbart mit einer Vanille-Tabak-Essenz parfümiert.
    Die knapp
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