Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bei Anbruch des Tages

Bei Anbruch des Tages

Titel: Bei Anbruch des Tages
Autoren: Sveva Casati Modignani
Vom Netzwerk:
färbte den Himmel rosa. Die Wiesen waren mit Blumen in allen nur erdenklichen Farben gesprenkelt, Reihen stolzer Maulbeerbäume säumten die Straße.
    Plötzlich brachte ein spitzer Stein das Fahrrad aus dem Gleichgewicht, und Bianca stürzte zu Boden.
    Erst sah sie den Himmel über sich und dann gar nichts mehr. Als sie die Augen wieder öffnete, beugte sich ein junger Mann über sie, der immer wieder sagte: »Hören Sie mich? Hallo, hören Sie mich?«
    Â»Wer sind Sie?«, fragte Bianca verwirrt.
    Â»Ich heiße Amilcare Cantoni. Ich habe Sie im hohen Bogen vom Rad fallen sehen und bin herbeigeeilt, um Ihnen zu helfen. Können Sie aufstehen?«
    Â»Ich weiß nicht … Ich bin mir nicht sicher … Bitte gehen Sie, bitte!«, sagte sie und begann zu weinen. Sie fuhr sich über die Wange und sah, dass ihre Hand blutverschmiert war. Sie spürte einen stechenden Schmerz im Knöchel und im linken Arm.
    Â»Signorina Bianca, ich gehe, wenn Sie das wollen. Aber erzählen Sie bitte nicht Ihrem Vater, ich hätte Ihnen nicht helfen wollen«, erwiderte er nüchtern.
    Er nahm sein Fahrrad, das er an einen Baum gelehnt hatte, stieg auf und hätte den Schrei des Mädchens, der ertönte, als sie ihn davonfahren sah, am liebsten überhört.

2
    A milcare Cantoni war der Sohn eines Bauern. Er hatte gerade die Hauptschule beendet, als sein Vater ihn zum Commen dator Crippa, dem Besitzer der gleichnamigen Armaturen-Fabrik, brachte.
    Die Gegend war seit jeher von den Olgiati Tremonti beherrscht worden, einem alten Adelsgeschlecht, das neben dem Palazzo am Kirchplatz auch Ländereien und Bauernhöfe besaß. Aber während dieses immer mehr an Vermögen und Ansehen verlor, wurde Commendator Crippa immer mächtiger und wurde überall geachtet.
    Â»Signor Commendatore«, setzte Amilcares Vater an, der einen abgewetzten Hut in den Händen hielt. »Das ist mein jüngster Sohn. Er will nicht Bauer werden, sondern würde gern in der Fabrik arbeiten, um weiter zur Sonntagsschule gehen zu können. Bitte nehmen Sie ihn in Ihre Firma auf.«
    Der Bauer war nervös und wagte es nicht, sich umzusehen. Sein Sohn dagegen nahm alles genau wahr: den großen dunklen Schreib tisch mit der Lederauflage, die Regale voller Aktenordner, das riesige Telefon, die schwarzen Sessel, den eleganten Anzug, den Commendator Crippa trug, und seine hellen Hände mit Fingernägeln, die so sauber waren wie die seines Lehrers. Auch der gestärkte Kragen seines Hemdes faszinierte ihn.
    Â»Ich brauche tatsächlich einen Jungen, der die Eisenspäne aufkehrt«, erwiderte Crippa und fügte hinzu: »Lass ihn ruhig hier. Ich werde gleich feststellen, ob er brauchbar ist. Wenn es nicht klappt, schicke ich ihn dir wieder heim.«
    Dann fragte er den Jungen: »Wie heißt du?«
    Â»Amilcare Cantoni«, erwiderte der mit fester Stimme.
    Â»Weißt du, wer Amilcare war?«
    Â»Der Vater von Hannibal, der die Alpen mit Elefanten überquert hat, um Rom zu erobern«, erklärte er altklug.
    Â»Ein bisschen mehr Respekt vor deinem Arbeitgeber!«, schaltete sich sein Vater ein und gab ihm einen Klaps. Dann wandte er sich an Commendator Crippa und sagte: »Da sehen Sie, Signore, wie die Kinder von heute sind: ohne jeden Anstand.«
    Â»Das ist schon in Ordnung, Cantoni. Lass mir deinen Jungen hier«, sagte der Commendatore und entließ den Bauern.
    Gegen Abend betrat er die Werkstatt und fragte den Vorarbeiter: »Wie hat sich der junge Cantoni so angestellt?«
    Â»Er ist immer noch hier und poliert Drehbänke und Bohrmaschinen. Man muss ihm nichts zwei Mal sagen.«
    Â»Der erste Eindruck zählt. Zeig ihm alles!«, befahl der Padrone, der eine spontane Zuneigung für diesen eifrigen Jungen empfand.
    Als Amilcare zum Militärdienst eingezogen wurde, hatte er, da er zur Abendschule gegangen war, nicht nur ein Mechanikerdiplom in der Tasche, sondern auch eine Ausbildung zum Vorarbeiter absolviert. Nach zwei Jahren hatte er die Armee im Dienstgrad eines Korporals wieder verlassen und war nach Villanova zurückgekehrt. Dort trat er gleich seine Stelle in der Fabrik des Commendator Crippa an, der ihn in die Technikabteilung versetzt hatte.
    An jenem Sonntag im Mai war der junge Mann mit dem Rad nach Mailand gefahren, um sich mit einem ehemaligen Waffenbruder zu treffen, der an der Technischen Hochschule Ingenieurswissenschaften
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher