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Aussortiert

Aussortiert

Titel: Aussortiert
Autoren: Helmut Krausser
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rauskommen.«
    Lidia wußte, er hatte
     wahrscheinlich recht, aber sie spürte, daß er von ihr etwas
     anderes erwartete, als ihm einfach nur recht zu geben. Nabel war gedemütigt
     worden, aber, das gab sie zu bedenken, auf sehr viel sanftere Weise als
     etwa König. Leider, und das merkte Lidia zu spät, machte dieses
     Argument die Sache nicht besser. Im Gegenteil. Kai hatte immer unter einer
     Profilneurose gelitten, im tiefsten Inneren hatte er König bewundert,
     sogar für dessen Tod. So menschlich in seinen Schwächen Nabel
     auch war, so sehr litt er darunter, daß er einem Beruf nachging, der
     höchste Erfüllung nur in der Überwindung des
     Allzumenschlichen versprach. So wie ein Soldat, der sich um jede Schlacht
     drückt, zwar froh um sein Leben, aber kein Soldat aus Überzeugung
     sein kann. Möglicherweise betrachtete Kai seine Arbeit längst
     als Spiel, doch selbst und gerade in einem Spiel zählt der
     Punktestand, das Erfolgserlebnis, der Triumph. Bei Männern, die die
     Vierzig überschritten hatten, besonders.
    Lidia fiel es schwer, Verständnis
     für solche Rudimente eines heroischen Weltbilds aufzubringen.
     Immerhin erkannte sie Kais Problem und reduzierte es nicht simpel auf die
     gekränkte Eitelkeit eines Mannes, der als Kind zuviel Sheriff&Outlaw-Szenen
     nachgespielt hatte. Aber wie sollte sie ihm nun, in der konkreten
     Situation helfen? Ihm raten, den Dienst zu quittieren, noch einmal etwas
     ganz Neues zu versuchen?
    Kai berührte sie mit
     zwei Fingern an der Wange und drückte seinen Mund auf ihren. Er half
     sich selbst. Lidia ließ es geschehen. Zu viele Gedanken bewegten und
     hemmten sie zugleich, um aus dem scheuen Kuß mehr werden zu lassen.
     Beide saßen danach noch einige Zeit stumm nebeneinander, bis das
     Konzert der Vögel in den Bäumen einsetzte und mit ihm ein
     zeitlupenhaft empfundenes, fast ins Unendliche gedehntes Crescendo der
     Morgendämmerung.

 
    22
    Nabel hatte immer noch nicht
     aufgegeben. Frühmorgens, ohne seine Wohnung betreten zu haben, fuhr
     er mit dem Taxi aufs Revier, wollte Pfeifer aus dem Schlaf reißen
     und in diesem Zustand, obwohl sein eigener kaum besser genannt werden
     konnte, erneut zur Rede stellen. Aber Pfeifer lag seit Stunden im
     Krankenhaus. Selbstmordversuch. So hieß es.
    Nabel stellte die Beamtin zur
     Rede, die Nachtdienst gehabt hatte, Gudrun Basemann, er konnte sie nicht
     recht leiden, wußte jedoch nie, weswegen. Nun bot sie ihm einen
     handfesten Grund.
    »Was sollte ich tun?
     Wir hören einen dumpfen Schlag, sehen nach und finden Pfeifer blutüberströmt
     am Boden. Er ist mit voller Wucht, Kopf voran, gegen die Wand gerannt!«
    »Ach? Und dann?«
    »Wir haben ihn vom
     Notarzt abholen lassen, was bitte sonst?«
    »Haben Sie ihm eine
     Bewachung mitgegeben?«
    »Wozu? In dem Zustand,
     in dem er war, halb tot! Außerdem – wer war denn hier um drei
     Uhr nachts? Alle waren unterwegs.«
    »Das kann doch nicht
     Ihr Ernst sein! Warum haben Sie mich nicht wenigstens umgehend informiert?«
    »Hab ich gemacht!«
    Nabel sah auf sein Handy.
     Nach der Pizzabestellung war der Akku leergelaufen. In seiner Wut beschloß
     er, auch dies Frau Basemann anzulasten, aber stillschweigend, sonst hätte
     es Erklärungsnöte gegeben.
    »Welches Krankenhaus,
     verflucht?«
    Frau Basemann hatte es sich
     aufgeschrieben, kramte in einem Wust von Zetteln und konnte ihn, eingeschüchtert
     von Nabels Lautstärke, nicht sofort finden.
    Pfeifer hatte einen alten und
     simplen Trick benutzt. Er ritzte sich mit seinem Kugelschreiber ein nicht
     sonderlich wichtiges Äderchen über der Stirn an, verrieb sich
     mit den Handflächen Blut übers Gesicht, dann rannte er gegen die
     Wand, nur eben nicht mit dem Kopf voran, sondern mit der Sohle seines
     rechten Schuhs, was ein zumindest recht ähnliches Geräusch
     ergab. Danach wälzte er sich, theatralisch röchelnd, auf dem
     Boden und wartete auf die Ambulanz, die ihn komfortabel in die Freiheit
     trug. Im Krankenhaus war Pfeifers Zustand weit weniger dramatisch
     beurteilt worden als auf dem Revier, man hatte die Wunde genäht und
     ihm ein Sedativ verpasst. Zwar diagnostizierte der Arzt eine mittlere
     Gehirnerschütterung, doch mehr, um aus medizinischer Sicht auf der
     sicheren Seite zu sein. Schließlich hatte der Patient gelallt und
     sinnloses Zeug von sich gegeben.       
    Kaum eine Stunde später
     war der Patient aus dem Einzelzimmer verschwunden, lange bevor Nabel
     eintraf, um
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