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Aussortiert

Aussortiert

Titel: Aussortiert
Autoren: Helmut Krausser
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halten wegen seines Diabetes. Das Pornokino war unter anderem
     ein Ablenkungsmanöver, verdrängte den Appetit.
    Wie dunkel es hier war. Kaum
     konnte Zisska den Aschenbecher vor sich erkennen. Ein Zuschauer verließ
     den Raum, der Ventilator surrte. Wenigstens war es angenehm kühl, man
     bekam nach einer Weile Lust auf Tee, der hier im Eintrittspreis von sieben
     Euro inbegriffen war. Tee und Kaffee, soviel man wollte. Zisska blieb
     sitzen. Zu faul, die Hose noch mal zuzumachen, aufzustehen, Tee zu holen,
     sich hinzusetzen, die Hose wieder aufzumachen.
    Die Kamera erfror auf dem
     Gesicht eines stöhnenden, pummeligen Mädchens, für einen
     Moment hätte man das Sperma auf ihrer Unterlippe für Eiszapfen
     halten können. Das nächste Mädchen sah besser aus, eine
     Asiatin oder Eurasiatin, schlank, mit kleinen festen Brüsten, tollen
     langen Beinen und rasierter Möse. Zisska begann heftig zu onanieren,
     stürzte sich in eine spontane Liebesbeziehung zur Darstellerin,
     wollte sie besitzen, penetrieren und imaginär befriedigen, vor allem
     wollte er schnell fertig werden, bevor die nächste mittelmäßige
     Episode seinen schönen Traum unterbrechen könnte. Zisska fühlte
     sich nie hundertprozentig wohl hier, das lag an seiner verklemmten
     Erziehung, manchmal träumte er, sich vor den schon lange toten Eltern
     rechtfertigen zu müssen. Es ist wegen des Diabetes, Mama, würde
     er im Traum sagen. Und billig ist es. Man kann sich nirgends anstecken.
     Gut für die Prostata sei es auch, hatte er gelesen. Plötzlich spürte
     er einen heftigen Druck im Hals, etwas spannte sich um seine Kehle, er
     stand Sekunden vor der Ejakulation und fühlte sich nicht eigentlich
     bedroht, eher belästigt. Sein Gehirn wollte nicht wahrnehmen, nicht
     benennen, was geschah, er wehrte sich kaum und starb binnen einer Minute,
     ohne noch einmal zum Orgasmus zu kommen. Nicht einmal Aufsehen wurde
     erregt. Die beiden weiter vorn sitzenden älteren Herren nahmen
     Zisskas gedämpftes Röcheln als nichts Besonderes wahr, sie kümmerten
     sich weiter um eigene Angelegenheiten.
    Der tote Bernd Z. saß
     noch viele Stunden lang auf seinem Sitz in der vorletzten Reihe, mit auf
     die Brust gekipptem Kopf. Zwei Wochen hatten dem gelernten
     Schlossermeister zur Pensionierung gefehlt. Erst nach Geschäftsschluß,
     gegen vier Uhr morgens, als der farbige Putzgehilfe ihn an der Schulter rüttelte,
     kippte Zisska zur Seite. Um den Hals trug er noch immer den blauen
     Polyacrylschal, auch wenn der sich binnen so vieler Stunden etwas
     gelockert hatte.
    Nabel erwachte mit pochenden
     Kopfschmerzen, wie an jedem Morgen. Drei Jahre war es her, daß Anna
     sich von ihm hatte scheiden lassen. Exakt drei Jahre, auf den Tag genau.
    Seitdem war es mit Kai Nabel
     stetig bergab gegangen, und daß er vor zwei Monaten dennoch zum
     Kriminalhauptkommissar befördert wurde, hatte er einzig Lidia zu
     verdanken. Galt Nabels erster Gedanke morgens den Schmerzen in seinen Schläfen,
     galt der zweite, spätestens der dritte, ihr. Sie war lebenswichtig für
     ihn geworden. Lidia Rauch bügelte mit ihrem akribischen, leicht
     schlaumeierischen Wesen regelmäßig all jene Nachlässigkeiten
     aus, die aus Nabels schludriger, um nicht zu sagen gleichgültiger
     Berufseinstellung entstanden.
    Nabel lebte seit der
     Scheidung allein. Zu einer neuen Beziehung fehlte ihm der Mut. Er ließ
     sich von Kammermusik wecken, begann den Tag rituell mit einem –
     einem einzigen – Schluck eiskalten Prosecco. Abends bevorzugte er
     teuren italienischen Rotwein, sah sich gerne Tarantino-Filme an und
     rauchte filterlose Zigaretten. Nach der Scheidung war er in eine billige
     Wohnung in Neukölln gezogen, nahe seinem Haupteinsatzgebiet
     Kreuzberg. Im Zehnparteienhaus wohnten ausnahmslos ruhige Mieter, darunter
     nur zwei türkische Familien, beide mit fast erwachsenen Kindern.
     Nabel war Ruhe enorm wichtig. Er konnte vom Wohnzimmer aus auf den hübsch
     renovierten Körnerpark sehen. Seine beiden Besteckschubladen
     enthielten zwanzig Gabeln und genauso viele Messer und Löffel. Damit
     die Spülmaschine anständig satt wurde und nur einmal jede Woche
     angeworfen werden mußte. Eine Rentnerin in der Nachbarschaft wusch
     seine Wäsche, kassierte dafür fünfzig Euro pro Monat.
     Eigentlich zuviel. Nabel wohnte im vierten, dem obersten Stock, die
     Dreizimmerwohnung besaß einen kahlen kleinen Balkon, auf dem er
     nachts gerne saß und Streichquartette
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