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Aussortiert

Aussortiert

Titel: Aussortiert
Autoren: Helmut Krausser
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selbstverständlich zurückweisen, je
     etwas auch nur sinngemäß Ähnliches von sich gegeben zu
     haben. Er war reichlich betrunken gewesen, als er es gesagt hatte, im
     kleinen Kreis am Ende der letzten Weihnachtsfeier, das muß man zu
     seinen Gunsten hinzufügen.
    Lidia band sich die
     halblangen kupferroten Haare zum Zopf. Sie hatte zwei Tassen Kaffee und
     Mettwurstbrote mit Schnittlauch aus der Kantine besorgt.
    »Weißt du, Kai,
     was merkwürdig ist? Ein Freak, der irgendwelche Filme nachspielt, hätte
     andere Verbrämungsmöglichkeiten seiner Tat gehabt.«
    Verbrämungsmöglichkeiten.
     Welch schönes Wort.
    »Wie meinst du das?«
    »Naja, die
     Bekenntnisschreiben waren offenkundig vorbereitet. Völlerei und
     Wollust gehören zu den sieben Todsünden, da hätte man süffiger,
     barocker formulieren können. Wenn man auf der religiösen Schiene
     unterwegs ist.«
    »Das hab ich mir auch
     gedacht. Und wenn es gar nicht so religiös gemeint ist?«
    Nabel stand auf und ging im
     Zimmer hin und her. »Vielleicht ist mit Gott nicht Gott gemeint,
     sondern der Mörder redet von sich in der dritten Person. Irgendein
     frustriertes, sozial benachteiligtes Schwein mit Allmachtsphantasien. Der
     Typ beschließt, jemanden umzubringen. An einem Ort mit relativ
     vielen Zuschauern. Es muß schnell gehen, und er darf nicht
     auffallen. Das bedeutet, er geht ein Risiko ein. Auch der Mord im
     Pornokino war ein Risiko. Er darf das Opfer nicht dazu kommen lassen, auch
     nur einen einzigen Schrei auszustoßen.«
    Lidia nickte. »Einer
     der Zeugen hat beobachtet, wie Wilkins auf dem Boden herumkroch und etwas
     aufgehoben hat.«
    »Währenddessen muß
     es passiert sein. Der Mörder tauscht den Becher aus. Dafür genügt
     eine halbe Sekunde, wenn er geschickt ist. Er bringt den vorbereiteten
     Schierlingsbecher mit, vielleicht in einer Aktentasche oder sowas –
     sonst müßte er im Restaurant das Gift einfüllen, das könnte
     auffallen.«
    »Okay, Kai. Aber er muß
     ein bißchen Glück haben. Er sucht ein dickes Opfer und es muß
     gerade eines anwesend sein.«
    »Einverstanden. Aber in
     Schnellfreßbuden hockt fast immer irgendein Fettsack.«
    »Trotzdem. Ich weiß
     nicht, wie du das empfindest, aber ich meine, der Mörder hatte eine
     ruhige Hand und außergewöhnlich metallene Nerven. Es spielt
     sich ab wie in einer Choreographie. Strenges Timing. Als Wilkins zu Boden
     geht, achten alle nur auf ihn, der Mörder vertauscht die Becher und
     entfernt sich. Ganz ruhig.«   
    Nabel ahnte, was sie ihm
     damit sagen wollte. Daß das alles gegen einen pubertierenden Ersttäter
     sprach. Viel eher für einen hochgradigen Geisteskranken, der sich von
     höheren Mächten behütet glaubt.
    »Ganz genau!«
     Lidia gab ihm recht, was genügte, um Nabel zu einem Lächeln zu
     verleiten. Im Grunde machte er den Job nur noch jener vereinzelten Momente
     wegen, in denen Lidia ihm zustimmte – und diese leicht prickelnde Wärme
     vom Nacken aus seine Schultern durchdrang.
    Kein einziger Zeuge konnte
     sich erinnern, ob jemand – und wenn, wer – an Wilkins’
     Tisch gesessen hatte. Das wäre auch zu praktisch gewesen. Lidia
     schneuzte sich. Sie schien seit Tagen unter einem Sommerschnupfen zu
     leiden. Nabel mochte das Geräusch, wenn sie niesen mußte. Es
     klang ein wenig nach dem hellen Schrei eines Fuchses auf Brautschau.
    »Gesundheit!«
    »Soll ich dich
     heimfahren?«
    »Danke. Ich nehm den
     Bus.«
    Nabel bemühte sich
     krampfhaft, keine Situation entstehen zu lassen, in der seine Gefühle
     für Lidia jemals aus dem selbstgebastelten Käfig ausbrechen
     konnten. Vage dachte er daran, bald in Frühpension zu gehen und
     danach bei ihr alles auf eine Karte zu setzen. Jetzt, wo sie noch
     zusammenarbeiteten, war es nötig, den Arbeitsalltag sauberzuhalten.
    Gegen 22 Uhr verließen
     beide das Büro, kurz zuvor war per Fax die Nachricht gekommen, daß
     in beiden Fällen keinerlei brauchbare DNA-Spuren sichergestellt
     worden waren.
    Die Schweinezeitung
     berichtete am nächsten Morgen über den »feigen Mord im
     Pornokino«, ausführlicher als gewünscht, rechnete ihn aber
     dem Milieu zu. Man hatte der Presse die kleinen lila Botschaften bislang
     vorenthalten. Nabel seufzte. Was bitte war ein unfeiger Mord? Wenn man dem
     Opfer eine Chance zur Gegenwehr oder zum Entkommen ließ? Würde
     man das einen tapferen Mord nennen?

 
    2
    Miroslav Nentwig, fünfundvierzig,
     ein Heizungsbauer mit eigenem kleinen
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