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Aussortiert

Aussortiert

Titel: Aussortiert
Autoren: Helmut Krausser
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fanatischen Haß
     auf übergewichtige Menschen schob? Die Sichtung des Überwachungsvideos
     ergab rein gar nichts. Die Kamera nahm tatsächlich nur den
     Kassenbereich auf.
    »Zu fett für Gott,
     das Schwein. Aussortiert. Basta.«
    Der Spruch klang religiös
     angehaucht, jedoch sehr rüpelhaft, ohne die dazu meist gewählte
     weihevolle Wortwahl.
    Das graphologische Gutachten
     stand noch aus, aber ein Experte, der sich den Schrieb en passant ansah,
     meinte, das sei die Schrift eines Kindes oder eines zurückgebliebenen
     Erwachsenen. Vielleicht recht clever angetäuscht. Dem Duktus nach möglicherweise
     ein Rapper oder Hiphoper. Jugendliche Omnipotenzphantasien kämen da
     zum Klingen.
    Zum Glück herrschte
     seitens der Presse keine große Neugier. Man hatte den Mord bisher
     nur unvollständig im Polizeibericht erwähnt. »Starb an
     noch ungeklärter Ursache« – klingt wenig interessant.
    Erst abends kam von den
     Kollegen aus Charlottenburg die Meldung, man habe im Pornokino am
     Adenauerplatz einen Toten gefunden, erdrosselt. Und in dessen Manteltasche
     ein selbstklebendes Schildchen, mit Botschaft, handschriftlich, lila Tinte
     – »Zu geil, das Schwein. Aussortiert. De mortuis nihil.«
    Ahmed pfiff leise durch die
     kleine Lücke seiner oberen Schneidezähne. Lidia setzte ein
     verwirrtes Gesicht auf. Minutenlang wurde es sehr still im Büro.
    Eine Serie. Auch das noch.
     Nabel schlug mit beiden Fäusten auf den Schreibtisch. Er fühlte
     große Lust, den Dienst zu quittieren, einfach mit der Begründung,
     sowas sei im August niemandem zuzumuten. Wozu nehm ich das alles auf mich?
    Es kam zum Schlimmsten. Nach
     einigen Telefonaten auf oberster Ebene wurde der Charlottenburger Fall der
     Mordkommission Nummer acht unter Leitung Nabels übertragen. Es hätte
     mit etwas Glück genausogut andersrum laufen können. Im Team
     schien sich nur Lidia darüber zu freuen. Sie war bereits unterwegs,
     um sich alle Details des Charlottenburger Falls von den dortigen Stellen
     aushändigen zu lassen.
    Manchmal wirken ihre Ellbögen
     spitzig, dachte Kai, wenn sie wie ein Sportgeher durchs Büro geht,
     zack-zack-zack. Die Ellbögen müßte man abschleifen. Hmm.
     Was denke ich? Laß sie doch sein, wie sie ist. Spitzig, zackig,
     spritzig. Beneidenswert.
    Dezernatsleiter
     Kriminaloberrat Dr. Seidel rief Nabel am frühen Abend an und machte
     ihn auf die Brisanz der Sache aufmerksam.
    »Sie begreifen sicher,
     was die Schweinezeitung draus machen würde. Solche Morde sind die
     allerschlimmsten, sie können wirklich jeden treffen. Das schlägt
     ins emotionale Kollektiv, so wie ein Ziegelsteinwurf von der Autobahnbrücke.«
    Nabel fühlte sich gedemütigt
     und gemaßregelt, wie fast immer, wenn er mit Seidel reden mußte
     und nur Binsenweisheiten zu hören bekam.
    »Verzeihung, wenn ich
     das einwenden darf, aber das richtete sich eben nicht gegen jeden. Nur
     gegen fette Menschen und Pornokinobesucher. Wir sollten das schon ein bißchen
     ernst nehmen.« Nabel kam sich selbst blöd vor, während er
     das sagte. Er redete, wie Leute eben reden, wenn sie irgend etwas
     antworten müssen und weder Lust dazu haben noch irgendeinen
     Standpunkt zu verteidigen.
    »Ich bin mir nicht
     sicher, Nabel, ob übergewichtige Menschen in unserer Gesellschaft als
     Minderheit zu werten sind. Bei Pornokinobesuchern bin ich mir sogar     
    äußerst unsicher.
     Ich habe eben mit der amerikanischen Botschaft telefoniert, wegen der
     Überführung des Touristen, die sind dort soweit einverstanden,
     die Sache nicht zu groß aufzubauschen. Und der Generalmanager von
     Burger King Berlin hat mich angerufen, daß er es sehr bedauern würde,
     wenn der Vorfall über Gebühr mit dem Namen seines Ladens
     verbunden bliebe undsoweiter … Haben Sie kapiert? Die Sache ist
     heikel!«
    Nabel hatte kapiert. Der alte
     Seidel war ein Mensch von pragmatischem Schlag. Bei einem privaten
     Geplauder hatte er Nabel mal die Präsentationstheorie ans Herz
     gelegt. Wird die Berichterstattung der Medien zu unerträglich,
     verhaftet man irgendeinen Penner, präsentiert den als Täter und
     ermittelt im stillen weiter. Der Penner wird gut verköstigt und nach
     drei Monaten wegen mangelnder Beweise auf freien Fuß gesetzt. Sofern
     man nicht Glück hat und der Penner die Tat gesteht. Während
     dieser drei Monate können die Ermittlungen ohne jeden Druck seitens
     der Presse verlaufen.
    Dr. Seidel würde auf
     offizielle Anfragen hin
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