Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aussortiert

Aussortiert

Titel: Aussortiert
Autoren: Helmut Krausser
Vom Netzwerk:
spätestens
     in einer halben Stunde hier aufkreuzen wird. Von jetzt ab dreißig
     Minuten. Hält wer dagegen?«
    »Seidel?«
    »Exakt.«
    Niemand nahm die Wette an.
     Seidel betrat das Büro binnen fünf Minuten, markierte den
     allesbeklagenden Gorilla, indem er mehrmals seine Fäuste gegen die
     eigene Brust schlug.
    Er machte diesmal keinen
     Versuch, den Bauch einzuziehen, ein sicherer Hinweis darauf, daß die
     Luft brannte.
    »Meine Damen und
     Herren, was passiert ist, können wir vor der Presse unmöglich
     runterspielen. Ein toter Freier – das betrifft sechzig Prozent aller
     deutschen Männer auf gewisse Art persönlich. Na gut, nicht alle
     gehn an den Straßenstrich, aber egal, im Dunkeln, statt einen
     geblasen zu bekommen das Hirn weggeblasen zu bekommen, das ist ganz, ganz
     große Scheiße! Und wenn das noch zu einer Serie gehört!
     Meine Fresse, ich sehs schon vor mir:     
    Der Killer mit der lila
     Tinte. Komisch, klingt irgendwie nicht so richtig schrecklich. Der
     Lila-Tintenkiller vielleicht?«
    Seidel, ein schlaffbackiger
     Mensch, brach in verzweifeltes Gekicher aus. Schob sich aber sofort wieder
     zusammen, wie ein zu laut gewordenes Akkordeon.
    »Nabel, ab sofort
     lassen Sie alles stehen und liegen und kümmern sich ausschließlich
     um diese Sache. Für Ihren Stab gilt das gleiche. Der Fall hat oberste
     Priorität und bekommt eine Soko. Ich will den Dreckskerl haben, der
     so etwas macht. Hätte ja wirklich noch drei Minuten warten können,
     und dann, dann wärs ein Tod, um den man Herrn … Herrn …«
    »Nentwig.«
    »Herrn Nentwig beneiden
     könnte, aber so … Gibts schon ein Profil?«
    Lidia schüttelte den
     Kopf. Sie sei noch am Sammeln von Merkmalen.
    Seidel rieb sich seine
     Platte, fuchtelte herum, stampfte demonstrativ auf und konnte nicht umhin,
     seinen Verdacht zu äußern, der Täter habe bestimmt eher
     mit rechtsradikaler Szene zu tun als mit fanatischen Betbrüdern.
     »Es sei denn, das wäre so ein Muslim-Scheiß, bloß
     ohne Muslims, also vielleicht sowas Krudes, irgendwo dazwischen …«
    Seidel nervte das Büro
     noch eine halbe Stunde lang, bevor er endlich abzog. Er war einer jener
     Typen, die es stets bereut hatten, nur noch auf oberer Ebene vom
     Schreibtisch aus aktiv sein zu dürfen, die sich nach ihrer
     Vergangenheit auf der Straße zurücksehnten wie nach der
     verlorenen Jugend. Zu Seidels Ehre muß man zugeben, daß er während
     seiner Zeit recht erfolgreich gewesen war, weshalb er nachfolgende
     Generationen leicht selbstgefällig als minderwertig und dringend
     seiner Unterstützung bedürftig ansah.
    Aus Sicht der Ermittler waren
     die Morde ein dreifaches Desaster. Die Spurenauswertung hatte nichts
     ergeben. Der Täter hatte nur jene hinterlassen, die er hinterlassen
     wollte.
    »Theoretisch«,
     meinte Nabel, »hätte er den Spielplatz von der anderen Seite,
     durch den Hof der Mietshäuser betreten können, ohne von
     irgendwem gesehen zu werden. Es handelt sich um eine Straße voll
     dunkler Gestalten, da fällt niemand auf, der herumschleicht. Relativ
     zum Mord im Burger King war das hier vollkommen risikolos. Selbst wenn
     jemand oben auf einem Balkon steht, er würde unten nichts erkennen.
     Zu dunkel. Und die Nutte sucht sich selbstverständlich, der Natur der
     Sache gemäß, noch die allerdunkelste Ecke aus. Das heißt,
     der Täter kann praktisch auf seine Beute warten. Er muß aus
     drei Meter Entfernung treffen. Gar nicht soo leicht, das braucht eine
     ruhige Hand. Ihm hat ein Schuß genügt. Sehr kaltblütig.
     Andere wären auf Nummer sicher gegangen. Bei den Lichtverhältnissen
     konnte er nicht sofort wissen, wie fatal er getroffen hatte. Die Nutte
     – wie heißt die eigentlich?«
    »Irina Podjanski.
     Polin. Strichname Petra.«
    »Die hat keine Schritte
     gehört, keine Schritte eines weglaufenden Mannes. Das heißt, er
     ist einigermaßen ruhig weggegangen und trug dämpfende Schuhe.
     Sofern es sich um einen Mann handelt. Irgendwie gehe ich davon aus.«
    »Ich auch«,
     meinte Lidia.
    »Bedeutet das, eine Täterin
     ist ganz ausgeschlossen?«
    »Nein, Kai, heutzutage
     ist gar nichts mehr ausgeschlossen. Ich habe nur gesagt, ich gehe von
     einem männlichen Täter aus.«   
    »Du bist doch sonst
     nicht so vage, Lidia? Was ist denn los? Kannst du die Wahrscheinlichkeit für
     einen männlichen Täter nicht mathematisch in Prozent ausdrücken?«
    »Irgendwas über
     neunzig. Das hilft uns im Zweifelsfall doch gar
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher